13.02.2018
Vorhang auf zum Spagat
Das Theater St.Gallen ist auch ein bisschen das Theater des Thurgaus: Zehn Prozent des Publikums kommen von hier. Porträt eines Grossbetriebs mit reicher Spagat-Erfahrung und einer Volksabstimmung im Nacken. Teil 2 unserer Serie über die Theaterhäuser rund um den Thurgau.
Von Peter Surber
Für den 17. Februar kündigt das Theater St.Gallen eine Uraufführung an: «Matterhorn». Das Stück dreht sich um den Engländer Edward Whimper, dem 1865 zusammen mit den Walliser Bergführern Vater und Sohn Peter Taugwalder die Erstbesteigung des berühmtesten Schweizer Gipfels gelang. Neben den alpinistischen Strapazen wird auch eine Liebesgeschichte nicht fehlen, denn das Stück ist ein Musical. Ob es allerdings ein Happy End hat (bei der Erstbesteigung kamen von der Siebnerseilschaft nur drei Männer lebend zurück), wird die Premiere zeigen. Sie ist fast ausverkauft, 20 weitere Vorstellungen sind bis Juni angesetzt, und auch in der nächsten Spielzeit wird der Kampf ums Matterhorn weitergehen.
Autor des Stücks ist Michael Kunze, der für St.Gallen bereits «Rebecca», «Tanz der Vampire» und «Don Camillo & Peppone» geschrieben hat. Die Musik hat der Engländer Albert Hammond komponiert, Regie führt der indische Filmregisseur Shekar Kapur. Das Theater St.Gallen hat sich mit solchen Musical-Uraufführungen einen internationalen Namen geschaffen – einen klingenden bei den Anhängern der leichteren Muse, einen zwiespältigen bei Freunden des Sprechtheaters: Sie kritisieren, das Musical dränge das Schauspiel an den Rand. Zumindest was die Zahl der Vorstellungen und den Besucherandrang betrifft, stimmt dies tatsächlich. 20'000 Leute sahen allein in der Spielzeit 2016/17 den «Tanz der Vampire», 93 Prozent betrug die Auslastung, und die drei weiteren Musicals trugen das ihre zur Gesamtzahl von über 36'000 Besucherinnen und Besuchern bei – im Vorjahr waren es gar 45'000 Musicalfreunde gewesen.
Szene aus der Musicalproduktion "Tanz der Vampire". Bild: Andreas J. Etter/Theater St. Gallen
Für das Opernprogramm, darunter Bestseller wie Mozarts «Figaro» oder Verdis «Nabucco», aber auch die Uraufführung «Annas Maske» des Schweizer Komponisten David Philipp Hefti, interessierten sich in der selben Spielzeit rund 24'000 Personen, die Auslastung betrug 74 Prozent. Im Schauspiel waren «Hamlet», Dürrenmatts «Durcheinandertal» und «Peter Pan» die Spitzenreiter, hier wurden gesamthaft 27'000 Tickets verkauft, Auslastung: 62 Prozent.
Die Dominanz des Musicals
Was diese Zahlen auf den ersten Blick zu bestätigen scheinen – die Dominanz des Musicals –, differenziert der geschäftsführende Direktor des Theaters, Werner Signer, im Gespräch. Auf der einen Seite spielten Musicals tatsächlich mehr Geld ein als andere Stücke, nicht zuletzt dank der Sponsoren. Die St.Gallische Kantonalbank ist einer der grossen Geldgeber, mit Coop wurde eben jetzt der Sponsoringvertrag verlängert. Dadurch trügen die Musicals zur Querfinanzierung von sperrigeren, weniger verkaufsträchtigen Produktionen bei, sagt Signer. Auf der anderen Seite aber sei die Zahl der Premieren im Schauspiel deutlich höher als in den anderen Sparten: Zu den sechs Schauspiel-Produktionen im Grossen Haus kamen in der letzten Spielzeit acht Stücke in der Lokremise hinzu und vier Produktionen im Studio. Im Sprechtheater waren das so viel diskutierte Stücke wie «Terror», «Das Schweigen der Schweiz» oder «Fräulein Stark»; daneben trat auch das Tanzensemble mit vier Produktionen in der Lokremise auf.
Die Frage nach der Verteilungsgerechtigkeit zwischen den Sparten begleitet das Theater St.Gallen seit langem – wie vermutlich alle Dreispartenhäuser. Bei der dritten Sparte, dem Tanz, ist das Ungleichgewicht sogar im Organigramm festgeschrieben: Oper und Schauspiel sind eigene Direktionen, Tanzchefin Beate Vollack (die St.Gallen 2019 nach fünf Jahren wieder verlässt) untersteht dagegen dem Operndirektor. Das ist historisch damit begründet, dass das Tanzensemble regelmässig im Musiktheater engagiert ist. Aber es hält den Tanz auch klein – so zumindest hat es Vollacks Vorgänger Marco Santi empfunden und nach vier Jahren am Theater aufgegeben.
Der Spagat zwischen Quote und Anspruch
Santi war damals aus der freien Szene ans Haus engagiert worden. Das gleiche gilt für Jonas Knecht. Der junge St.Galler ist seit anderthalb Spielzeiten Schauspieldirektor in seiner Heimatstadt. Knecht hatte in Berlin Figurentheater und Regie studiert, war dort hängen geblieben und mit einem eigenen Ensemble, dem Theater Konstellationen, in der freien Szene aktiv. Er ist mit dem Anspruch in St.Gallen angetreten (und auch dafür gewählt worden), aktuelle Themen ins Theater und das Theater näher an die Stadt und an die Bevölkerung heran zu bringen.
Der Spagat zwischen Quote und Anspruch: Das ist die Turnübung, die alle St.Galler Theatermacher am besten können müssen. Knecht beherrscht ihn, wie sein Vorgänger Tim Kramer auch, bisher ziemlich gut. Das Schauspiel bringt Schweizer Autoren wie Dürrenmatt, Hürlimann und Glauser (gerade hatte dessen Krimi «Matto regiert» in einer Bühnenfassung Premiere), aber auch eigens entwickelte Autorenprojekte wie «Das Schweigen der Schweiz» oder, für März geplant, eine Auseinandersetzung mit Big Data von der Fichenaffäre bis zu Google, Titel: «Lugano Paradiso». Knecht zeigt Gegenwartstheater wie das Bestseller-Stück «Terror» neben Klassikern wie «Hamlet» oder Schillers «Räuber». Er hat eine Hausregisseurin, Barbara-David Brüesch, eingesetzt und ist Mit-Initiant des Festivals «Jungspund» für Kinder- und Jugendtheater, das jetzt im Februar erstmals in St.Gallen, in der Lokremise stattfindet und mit einem nationalen Anspruch antritt.
Auch Kinder- und Jugendtheater findet hier regelmässig statt: Szene aus "Räuber Hotzenplotz". Bild: Tanja Dorendorf/Theater St.Gallen
Knecht hat zudem schon in seiner ersten Spielzeit das Theater «auf die Gasse» gebracht: in einem blauen Schiffscontainer. Darin wird gelesen, diskutiert, Stand-up-Theater geboten oder auch mal eine Regiebesprechung abgehalten. Der Container stand bisher an verschiedenen Orten in der Fussgängerzone und wurde dort gut beachtet. Dann zügelte er ins Güterbahnhofareal, wo eine soziokulturelle Zwischennutzung namens «Lattich» im Gang ist – und geriet dort eher aufs Abstellgleis. Die nächste Station ist noch offen.
Seine Ambition hat Knecht schon vor seinem Amtsantritt in einem Saiten-Interview formuliert: «Mich interessieren neue Formen, ob auf der Grossen Bühne oder in einem Container, der durch die Stadt wandert. Wenn es gelingt, das Theater zu öffnen und wieder stärker in der Stadt zu verankern, dann wirkt sich das bestimmt auch positiv auf die Besucherzahlen aus.» In der letzten Spielzeit, 2016/17, sahen die Zahlen nicht so schlecht aus – aber auch Knecht musste die Erfahrung machen, dass die sichersten Werte weiterhin Schiller und Shakespeare heissen. Ja noch zugespitzter: «Wenn die Leute den Stücktitel kennen, kommen sie.» Das Opernpublikum ist in St.Gallen in dieser Hinsicht noch modernitätsresistenter. Hier füllen Verdi, Puccini & Co. die Ränge. Immerhin gab es in den letzten Jahren auch Risikoproduktionen: «Der Tod und das Mädchen» des einheimischen Komponisten Alfons Karl Zwicker, die Uraufführung «Annas Maske» oder Ausgrabungen aus der Spätromantik wie Franz Schrekers «Die Gezeichneten». Die NZZ kommentierte die Premiere letzten Herbst so: «Mit der Neuinszenierung von Franz Schrekers Oper «Die Gezeichneten» verdient sich das Theater St. Gallen den Preis für den mutigsten Start in die neue Saison.»
Der Thurgau zahlt 1,6 Millionen Franken im Jahr
Das «Stadttheater», wie es auch regelmässige Theatergänger immer noch nennen, ist seit 2009 im Besitz des Kantons St.Gallen. Von den umliegenden Kantonen wird es im Rahmen des Finanzausgleichs und entsprechend den ermittelten Besucherzahlen mit unterstützt. Der Thurgau zahlt aktuell 1,6 Millionen Franken im Jahr, Basis ist die Zahl von 10,7 Prozent Besucherinnen und Besuchern aus dem Thurgau.
Über das aktuell meistdiskutierte Projekt kann aber nur das Stimmvolk des Kantons St.Gallen entscheiden: Am 4. März kommt der 48,6-Millionen-Kredit für die Sanierung des Theatergebäudes an die Urne. Das Ratsreferendum ergriffen hatte die SVP-Fraktion im Kantonsparlament. Dabei ist der Sanierungsbedarf unbestritten: Genau vor 50 Jahren ist der markante Betonbau des Theaters im Stadtpark eingeweiht worden, und inzwischen leckt die Heizung, ist die Gebäudehülle schadhaft und fehlt es in den Werkstätten an Platz und sogar an geschlechtergetrennten Toiletten. Für die SVP wäre das Grund genug, die ganze «Betonkiste» zum Abriss freizugeben – obwohl der Bau national geschützt ist und ein Neubau nicht unter 150 Millionen zu realisieren wäre. Die Gegner des Kredits machen mit dem Slogan «Ein Fass ohne Boden» Stimmung gegen das Theater und hätten die Sanierung gerne billiger. Für die Renovation setzen sich alle anderen Parteien ein sowie, vom Kulturmagazin Saiten koordiniert, eine grosse Zahl von Kulturschaffenden aus allen Sparten (und auch aus dem Thurgau), mehr dazu hier: www.ja-kob.ch
Rostende Leitungen: Die Haustechnik ist nicht mehr à jour. Bild: Theater St. Gallen
Am 15. März wird der Bau des Architekten Claude Paillard gefeiert – mit Beethovens Oper «Fidelio», mit der er genau 50 Jahre zuvor eingeweiht worden war. Dann ist auch klar, ob das Stimmvolk zum Umbau applaudiert hat oder ob das Stück namens «Theatersanierung» nochmal von vorne beginnt.
Theater St.Gallen: Zahlen, Daten, Fakten
Trägerschaft: Genossenschaft Konzert und Theater St.Gallen
Gebäude: Claude Paillard, 1968 eröffnet. Zweite Spielstätte in der Lokremise St.Gallen
Kennzahlen (Spielzeit 2016/17)
Veranstaltungen (Konzert und Theater gemeinsam) 478
Besucherzahl Konzert 20’186
Besucherzahl Theater 113’360
Besucherzahl St.Galler Festspiele 9’058
Total Besucher 142’604
Auslastung Konzert 83 %
Auslastung Theater 73 %
Auslastung Festspiele 84 %
Aufwand 39,6 Mio Franken
Subventionen 28,1 Mio Franken
Betriebsertrag 11,8 Mio Franken
MitarbeiterInnen festangestellt 265
MitarbeiterInnen teilverpflichtet 298
Aushilfen Technik 130
Markant, aber energietechnisch in die Jahre gekommen: die Fassade des Theaters St.Gallen zum Stadtpark hin. Bild:PD
Beschädigte Bodenheizung. Bild: PD
Handkonterzüge für die Kulissen wie anno dazumal: Sie sollen elektrifiziert werden. Bild: PD
Weiterlesen:
Teil 1 unserer Serie über die Theaterhäuser rund um den Thurgau beschäftigte sich mit dem Theater Winterthur: Zwischen Depression und Aufbruch: Das Theater Winterthur hat harte Jahre hinter sich. Die Sparmassnahmen sind überstanden, jetzt soll eine neue Struktur das Haus fit machen für die Zukunft. https://www.thurgaukultur.ch/magazin/3364/
Ähnliche Beiträge
Der Kreativator
Kreativ-Direktor und Motivator zugleich: Leopold Huber hat das See-Burgtheater zu dem gemacht, was es heute ist. Die Geschichte eines Mannes, der immer auf der Suche ist. mehr
Alles mega hier!
Das Junge Theater Thurgau: Wie Theaterspielen das Leben dieser jungen Thurgauer verändert hat. Porträt eines heranwachsenden Ensembles. mehr
Überlebensstrategie für das Menschsein
Zum zweiten Mal erhält die Performerin Micha Stuhlmann einen Kulturförderbeitrag des Kantons. Mit ihrem «Laboratorium für Artenschutz» will sie der Kunst und dem Leben näher kommen mehr