von Markus Schär, 05.10.2018
Das Wertvollste aus dem Thurgauer Boden
Seit 150 Jahren kommen im Kanton Schätze ans Tageslicht, die bei den Forschern weltweit Aufmerksamkeit finden. Mit diesen Erfolgen spielen die fussball-verliebten Thurgauer Archäologen in der Champions League. Wir stellen die wichtigsten Funde vor und erklären, weshalb sie so wertvoll sind.
«Sooo schlimm steht es jetzt auch wieder nicht um den Kanton Thurgau!», tröstete der Archäologe Urs Leuzinger den pessimistischen Ex-Präsidenten des Historischen Vereins. «Dieser Kanton hat seine Seele verloren», hatte Staatsarchivar André Salathé im Gespräch mit thurgaukultur.ch geklagt. Und sein Kollege aus der Verwaltung munterte ihn mit einem Kommentar zu etwas mehr Optimismus auf: «Das Glas ist mindestens halbvoll.» Denn ganz viele Leute setzten sich «für eine zeitgemässe Aufarbeitung der spannenden Vergangenheit unseres Kantons» ein.
An vorderster Front, bei den Untersuchungen für die Wissenschaft wie bei der Umsetzung fürs Publikum, trägt das kantonale Amt für Archäologie dazu bei. Was seine Experten an Spannendem zur Vorgeschichte des Thurgaus und der Thurgauer erarbeiten, lässt sich einerseits in den Publikationen auf seiner Website nachlesen (teils kostenpflichtig, teils gratis herunterzuladen) und andererseits im Museum für Archäologie anschauen. Der Kanton hat viele Schätze zu bieten – dies sind die aktuell wichtigsten:
Pfahlbauten: Unter dem Parkplatz auf ewig geschützt
Kurz nach der Gründung des Bundesstaates 1848 entdeckten die Schweizer die Menschen, die angeblich in wehrhaften Dörfern auf dem Wasser gelebt hatten, als ihre vermeintlichen Vorfahren. (Ob sie es tatsächlich sind, ist fraglich – aber dazu ein anderes Mal.) Und in diesem «Pfahlbauer-Fieber» eiferten die Thurgauer von Anfang an mit wichtigen Fundstellen mit: Egelsee bei Niederwil, Insel Werd bei Eschenz, Steckborn-Schanz, Arbon-Bleiche, Pfyn-Breitenloo. Nachdem Amateure vieles ausserhalb des Kantons verhökert hatten, grub Konservator Karl Keller-Tarnuzzer ab 1929 systematisch, im Zweiten Weltkrieg auch mit polnischen Internierten. Was er in Pfyn fand, führte zum international akzeptierten Namen der Pfyner Kultur – die wissenschaftliche Auswertung blieb aber mangels Finanzen liegen.
Ganz anders bei Arbon-Bleiche 3, wo sich 1993 bis 1995 ein bestens erhaltenes Pfahlbauerdorf fand. Der Jungarchäologe Urs Leuzinger, als Aushilfe angeheuert, zog von Beginn weg Spezialisten aus aller Welt bei. Deshalb liegt jetzt eine umfangreiche Dokumentation vor (eben: auch online greifbar), an deren Analyse die Archäologen international immer noch arbeiten. Im Buch «Lebensweisen in der Steinzeit» (2017) zur Archäologie in der Schweiz nehmen die überraschenden Erkenntnisse aus Arbon viel Platz ein. Und die Dauerausstellung des Landesmuseums zeigt als Gabe des Kantons Thurgau einen Sensationsfund von dort: einen 5400 Jahre alten Kuhfladen.
Die Pfahlbauten von Arbon, Hüttwilen, Niederwil und der Insel Werd gehören denn auch seit 2011 zum Unesco-Welterbe – allerdings sehen die Besucher davon im Gelände kaum etwas, in der Arboner Bleiche gar nur einen Parkplatz! «Wir wollen nicht noch eine Kathedrale oder noch eine Pyramide mit Millionen Touristen», erklärt der Hüter des «unsexysten Welterbes», Kantonsarchäologe Hansjörg Brem. Die Unesco fordere gerade, das Erbe sei für die Nachkommen zu schützen. Also sei diese Überlieferung, im Boden gesichert, das Beste, was dem Thurgau passieren könne: «Was ist für den Thurgauer das Wichtigste im Leben? Nicht die Ehefrau, nicht das Bankkonto und nicht die Zahnbürste, sondern der eigene Parkplatz. Da wird tausend Jahre nichts mehr passieren.»
Bilderstrecke: Berühmte Grabungsorte im Thurgau
«Stonehenge im Bodensee»: Warten auf die Sensation
Die Mitarbeiter der baden-württembergischen Landesanstalt für Umwelt, Messungen und Naturschutz staunten, als sie 2015 die Tiefe des Bodensees massen: In der Flachwasserzone am Ufer zwischen Güttingen und Romanshorn sahen sie über hundert Steinhaufen. Von der Natur hinterlassen oder von Menschen geschaffen?, mussten sich die Forscher fragen. Nach weiteren Messungen im April dieses Jahres, dank dem weltweit erstmaligen Einsatz eines Georadargeräts, das auch unter Wasser funktioniert, wissen die Archäologen jetzt: Die Anlage ist Menschenwerk; darin fand sich bei Tauchgängen rund 5500 Jahre altes Holz aus der Jungsteinzeit. (Das bedeutet allerdings noch nicht, dass die «Hügeli» dann entstanden sind.) Die Medien, wie das Magazin «Focus», raunten deshalb bereits, im Bodensee könnte sich eine Sensation finden wie im englischen Stonehenge, wo Steinzeitmenschen ab 5100 vor Christus eine Anlage für astronomische Beobachtungen bauten.
«Die Leute verstehen nicht, weshalb ich nicht sofort bei einem Dokfilm von Terra X (ZDF) zum ‹Rätsel im Bodensee› mitmache», sagt Urs Leuzinger. Bei aller Mediengeilheit, die er sich selber nachsagt, sieht er sich aber zuerst als Wissenschaftler, der nicht spekulative Deutungen, sondern seriöse Ergebnisse bietet. Oberflächenscans eines Hügels im Herbst und Unterwassergrabungen im Winter sollen sie liefern: «Lasst uns zuerst forschen.»
Silbermünzenschatz: Freiwillige finden eine Rarität
Ein «Sensationsfund», wie der «Südkurier» jubelte, ist immerhin derzeit im Museum für Archäologie zu sehen. Einige Freiwillige spüren für das kantonale Amt im Thurgauer Boden Schätze auf. Und drei von ihnen stiessen 2016 im Tägermoos mit ihren Metalldetektoren auf eine seltene Silbermünze. Ein Jahr lang suchte Urs Leuzinger darauf mit Helfern immer wieder das Ackerland ab, und sie fanden insgesamt 43 Münzen: 2100 Jahre alt, also aus der Zeit der Kelten, und gemäss Aufzeichnungen nur in einer Stückzahl von hundert geprägt.
Noch stellt sich manche Frage, vor allem auch: Wer brachte den Schatz ins Tägermoos? Und warum? Opferte jemand die wertvollen Münzen den Göttern, wie Urs Leuzinger vermutet? Wurden sie versteckt oder einfach verloren? «Der Sachwert dieses Fundes beträgt rund 200 Franken», schätzt der Archäologe. «Der wissenschaftliche Wert aber ist unbezahlbar.» Die Dokumentation, an der die Thurgauer arbeiten, werde deshalb weltweit auf Interesse stossen, wissen sie. Weil sie «immer alles zuerst hier publizieren», zeigen sie den Silberschatz aber schon jetzt – die Sonderausstellung im Frauenfelder Museum läuft noch bis am 28. Oktober.
Eschenz: Wichtig von der Altsteinzeit bis ins Frühmittelalter
In Arbon und Pfyn, im Tägermoos und im Seebachtal fanden sich Relikte von grossem wissenschaftlichen Wert, in keiner anderen Region aber so wertvolle über einen so langen Zeitraum wie am Ausfluss des Untersees, zwischen Eschenz und Stein am Rhein. Von der Insel Werd stammt der älteste Fund aus dem Thurgau, der bis vor 15’000 Jahren völlig vergletschert war: eine 13’000 Jahre alte Geschossspitze aus Feuerstein – die das Amt für Archäologie im Jahr 2000 von den Mönchen auf der Insel aus dem Nachlass eines unbekannten Schatzgräbers erhielt.
Und beim Bahnhof Eschenz kam schon 1906 der kostbarste Fund im Kanton ans Tageslicht: ein 4400 Jahre alter Goldbecher. Der Finder unterschlug das wertvolle Stück und verkaufte es einem Eschenzer Arzt, dieser vermachte es 1974 dem Kanton Thurgau. Der zuständige Archäologe führte es darauf jahrelang in einer Schuhschachtel in seinem Auto herum. Heute aber gilt es, mit nur einem Pendant in Cornwall, als «ein bedeutendes Glied in der Reihe der frühesten Goldgefässe Mittel- und Westeuropas» – im Museum steht deshalb vorsichtshalber nur eine Kopie.
An diesem Verkehrsknotenpunkt bauten auch die Römer vor zweitausend Jahren einen vicus, also ein Dorf samt Kastell. Zu Tasgetium liegen jetzt drei dicke Bände vor. Und vor allem mit den gut erhaltenen Holzgeräten, vom Fass bis zur Flöte, wie es sie vergleichbar nur aus Vitudurum (Oberwinterthur) und Vindonissa (Windisch) gibt, «spielen wir in der Champions League», wie sich Urs Leuzinger freut. Die Grabungen gehen weiter, wann immer es im stark wachsenden Eschenz zu Bauarbeiten kommt, so auch bei jenen für die Villa des Formel 1-Stars Sebastian Vettel: «Alles, was er über Archäologie weiss, weiss er von uns», schmunzelt Hansjörg Brem. Zuletzt kam ein frühmittelalterliches, also 1400 Jahre altes Dorf samt Friedhof zum Vorschein – das erste im Kanton. «Jetzt können wir bei dieser Zeit auch mitreden», sagt Urs Leuzinger: Dem wichtigen Fund widmet er eine Sonderausstellung, demnächst in seinem Museum.
Weiterlesen: Wer sind die Menschen hinter den archäologischen Funden? Im ersten Teil zur Archäologie im Thurgau stellt Markus Schär die beiden Archäologen und «Jäger der Thurgauer Schätze» Hansjörg Brem und Urs Leuzinger vor.
Von Markus Schär
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