von Katrin Zürcher, 04.06.2016
Der hemdsärmelige Schöngeist
Wenn ab Mitte Juni Karl’s kühne Gassenschau in Oberwinterthur gastiert, ist im elfköpfigen Schauspielensemble auch ein Thurgauer dabei: Simon Engeli aus Kreuzlingen wird in „Sektor1“ einen Aufseher spielen, dessen Figur er zurzeit mitentwickelt. Dabei kann der Schauspieler und Theatergründer aus dem Vollen schöpfen.
Katrin Zürcher
Simon Engeli weiss zurzeit fast nicht, wie er all seine Verpflichtungen unter einen Hut bringen soll. Für einen freiberuflichen Schauspieler, Musikanten und Theaterbetreiber ist das zwar erfreulich, aber: „Ein bisschen mehr Schlaf würde mir schon guttun.“ An den kurzen Nächten sind nicht nur seine Engagements schuld, sondern auch der Schlafrhythmus seiner 14-monatigen Tochter. Sie ist das jüngste der drei Kinder von ihm und seiner Frau Rahel Wohlgensinger. Die Theaterfamilie wohnt in Kreuzlingen, wenn sie sich nicht gerade aufgrund eines Engagements sonstwo aufhält - wie 2014 drei Monate im Engadin, wo Engeli zum Nationalparkjubiläum das Freilichtspektakel „Laina Viva“ schrieb.
Künstlerischer Allrounder
Trotz kurzer Nacht wirkt der 37-Jährige ausgesprochen wach, als er auf seinem Arbeitsweg nach Winterthur in Frauenfeld Halt macht, um in einem Café der Journalistin Red und Antwort zu stehen. Seine graublauen Augen leuchten, als er von seinem Leben auf den Theaterbühnen erzählt. Von Stress ist ihm nichts anzumerken, im Gegenteil: Er scheint alle Zeit der Welt zu haben, wählt seine Worte mit Bedacht, holt für eine Erklärung auch einmal weiter aus. Seit zwölf Jahren arbeitet er als Schauspieler und Musikant - in der Irish Folkband „A Little Green“ spielt er Geige und Schlagzeug. Zudem hat er zusammen mit zwei Kollegen die „Theaterwerkstätte Gleis 5“ in Frauenfeld aufgebaut und betreibt mit seiner Frau das Puppentheater Puppenspiel.ch. Er sagt: „Das alles war und ist nur dank guter Kollegen möglich.“
Vom Lastwagen auf die Bühne
Mit zwei von ihnen, Giuseppe Spina und Noce Noseda, fing seine Theaterkarriere an. Das Trio tourte mit dem Stück „Die drei Musketiere“ durch abgelegene Dörfer im Bündnerland, in einem gemieteten Bus, mit einer gemieteten Bühne. „Das war eine enorm lehrreiche Erfahrung“, sagt Engeli. Alles hätten sie selbst gemacht: Das Stück adaptiert, den Tourneeplan erstellt, die Werbung verfasst, den Lastwagen gefahren, die Technik organisiert, die Bühne aufgebaut. „Es kam vor, dass ich vom Schleppen schwerer Kisten meine Hände nicht mehr spürte und trotzdem eine halbe Stunde später mit der Geige auf der Bühne stand.“ Noch heute mag er es, wenn es nicht immer nur schöngeistig, sondern auch hemdsärmelig zu- und hergeht. „Vielleicht passt mir deshalb das aktuelle Engagement bei Karl’s kühner Gassenschau so gut.“
Stunt in der Naturoase der Zukunft
Für die Gassenschau wurden er und eine Schauspielerin aus 400 Bewerbungen in einem mehrstufigen und mehrmonatigen Casting ausgewählt. Bescheiden kommentiert er: „Es gab sicher in allen Bereichen bessere Bewerber, aber die Verantwortlichen haben die beiden Personen ausgewählt, die am besten ins Team passen.“ Zudem müsse einem der Arbeitsstil der kühnen Gassenschau liegen. Dort seien zu Beginn der Proben lediglich die technischen Mittel definiert und eine grobe Storyline vorhanden. Die Figuren würden durch das Improvisieren der Schauspieler entwickelt. „Mir kommt diese Arbeitsweise sehr entgegen, da ich immer so gearbeitet habe.“ Über den genauen Inhalt des Stücks darf er noch nichts verraten. Nur so viel: „Ich spiele einen Aufseher im Sektor 1, der Naturoase der Zukunft. Da meine Figur total überfordert ist, ergibt sich viel komisches Potenzial. Und ein kleiner Stunt ist auch dabei.“
Berufswunsch Archäologe
Dabei wollte Simon Engeli, der in Romanshorn aufgewachsen ist, eigentlich Archäologe werden. Diesen Berufswunsch hatte er bis kurz vor der Matura. „Ich verbrachte meine Ferien auf Grabungsstellen arbeitend und hatte Fachzeitschriften abonniert.“ Doch dann sah er auf einer Wanderwoche im Tessin die Aufführung von Schülern der „Scuola Teatro Dimitri“, und es war um ihn geschehen. „Ich beschloss, einmal im Leben eine Aufnahmeprüfung zu absolvieren.“ Hätte es nicht geklappt, dann hätte er Geschichte studiert. Doch es klappte auf Anhieb. Auch die Probezeit, nach der die Hälfte der Schülerinnen und Schüler gehen musste, überstand er problemlos. Dennoch wollte er nach zwei Monaten aufgeben.
Vom Bewegungsidioten zum Akrobaten
„Der Anfang war unglaublich hart“, erzählt er. „Ich war als Gymnasiast ein Bewegungsidiot und musste nun täglich Akrobatik, Tanz und Pantomime trainieren. Zusätzlich machte ich mir Psychostress, weil ich unbedingt erfolgreich sein wollte.“ So bestellte er Unterlagen der Uni - mittlerweile reizte ihn auch Religionswissenschaft. Doch von diesem Moment an ging es plötzlich leicht, und er verbrachte drei schöne Jahre in Verscio. Im Jahr 2002 erhielt er das Diplom und zog weiter nach Berlin, um sich der Stimmbildung und dem Gesang zu widmen. 2004 kehrte er zurück in die Schweiz und begann seine Karriere als freischaffender Schauspieler, die sich zurzeit um Puppenspiel.ch, Theaterwerkstätte Gleis 5 und Karl’s kühne Gassenschau dreht.
Ein grosses Privileg
Beruf und Familie sind auch bei einem freischaffenden Theaterpaar nicht immer einfach zu vereinbaren. So hat seine Frau Rahel Wohlgensinger ihr Engagement bei Puppenspiel.ch derzeit reduziert, damit er sich ein halbes Jahr der kühnen Gassenschau widmen kann. Ab Mitte Oktober sei dafür sie wieder für ein halbes Jahr an der Reihe.
Die Proben der Gassenschau finden täglich von 14 bis 21 unter freiem Himmel in Oberwinterthur statt; Premiere ist am 16. Juni. Danach wird „Sektor1“ rund hundertmal aufgeführt. Simon Engeli trinkt seinen Tee aus und erkundigt sich nach der Zeit. Bevor er den Zug nach Winterthur besteigt, will er noch kurz in der Theaterwerkstatt Gleis 5 vorbeischauen, um die Finanzierung eines Projekts zu regeln. Es sei zurzeit Diverses in der Pipeline, aber: „Trotz der Belastung empfinde ich es als grosses Privileg, so leben und arbeiten zu dürfen.“
Sektor 1 wird verlängertDie ersten 60 Aufführungen von „Sektor1“ sind bereits ausverkauft, und die Spielzeit ist bis 15. Oktober verlängert worden. Karl’s kühne Gassenschau sei ein theatraler Höllenritt voller traumhafter Bilder, waghalsiger Maschinen, atemberaubender Stunts und intensiver Gefühle, so die Eigenwerbung. Tickets hier. (red) |
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