von Inka Grabowsky, 17.09.2017
Die Randsportart im Zentrum
Zur Eröffnung des 10. Literaturwochenendes am Untersee in Ermatingen erlebten Politprominenz und Publikum die Vorpremiere von Dieter Bachmanns neuem Roman „Inventur – Abschied von den Dingen“
Von Inka Grabowsky
Regierungsrätin Monika Knill nahm in ihrem Grusswort kein Blatt vor den Mund: „Lesungen sind ja so etwas wie eine Randsportart, wenn man die Menge an Publikum und die Einschaltquoten betrachtet.“ Deshalb sei es bemerkenswert, dass es den Organisatoren gelänge, schon zum zehnten Mal ihr Lesefest durchzuführen. „Unser Kanton hat kein eigentliches Zentrum. Umso schöner, dass es dezentral Orte gibt, an denen die Literatur gefördert wird.“ Auch der Gemeindepräsident von Ermatingen, Martin Stuber, bedankte sich bei den Organisatoren und den Gastgebern dieser ersten von fünf Lesungen, Margit und Jens Koemeda, für ihren grossen Einsatz. „Ich hoffe, die Erfolgsgeschichte wird fortgesetzt“, meinte er, um im literarischen Bild zu bleiben. Er würde jedenfalls immer wieder gerne zu den Lesungen kommen.
Grosser Andrang
Die Besonderheit des kleinen Literatur-Festivals liegt in seinen Schauplätzen. Die Besitzer von historischen Häusern am Untersee stellen jeweils ihre Privaträume zur Verfügung. Das sorgt für eine besondere Atmosphäre, die – im wahrsten Sinn des Wortes – Autoren und Publikum näher zusammenrücken lässt. Bei der Eröffnungslesung im „Breitenstein“ mussten die Helfer immer mehr Stühle im ganzen Haus zusammensuchen, bis schliesslich rund siebzig Personen im Salon von Koemedas gespannt warteten. Dieter Bachmann, der ehemalige Chefredaktor von „du“ und Autor zahlreicher Romane, Erzählungen und Sachbücher, gönnte ihnen ein besonderes Privileg: Er las aus einem noch unveröffentlichten Manuskript. Es sei spannend für ihn zu sehen, wie die Texte ankämen. „Für mich ist das Buch fertig“, erklärte er vorab. „Aber ich bin noch nicht sicher, bei welchem Verlag ich diesmal veröffentlichen will, und insofern könnte nach der Prüfung des Lektors noch einiges verändert werden.“ Die Literaturfans durften dann erleben, wie der Autor selbst beim Vorlesen eine Korrektur anbrachte. „Das ist ein Fehler“, schiebt er ein, als er seinen Protagonisten erst Fendant und dann „einen Wein vom Genfersee“ trinken lässt.
Ein gebanntes Publikum lauschte dem Vortrag. Bild: Inka Grabowsky
„Inventur - Abschied von den Dingen“ sei ein philosophischer Roman, so der Autor. Im Zentrum steht der Privat-Philosoph „Him“, der schon in seiner Kindheit den Dingen auf den Grund gehen wollte. Im Alter korrespondiert er mit seinem Freund, einem Weinbauern, und seiner Ziehtochter, die nach New York ausgewandert ist. Him denkt über den Verlust der haptischen Wahrnehmung nach, seit alle Menschen nur noch digital kommunizieren und schreiben. Das „Gedächtnis der Hand“ gehe verloren, wenn man auf Bleistift und Notizbuch verzichte. Ein Buch sei schliesslich auch mehr als eine Aneinanderreihung von Buchstaben. Es habe eine dreidimensionale Wirkung. „Man umarmt sich immer mehr, aber man berührt sich immer weniger“, denkt Him.
Die Zuhörer in Ermatingen – meist selbst in vorgerücktem Alter – teilen diese Ansicht: „Sie haben mir ein riesiges Geschenk gemacht mit der Formulierung ‚Die Hand hat Durst’“, meint einer nach der Lesung. „Das ist eine ideale Chiffre, um das menschliche Bedürfnis zu berühren zu beschreiben.“ Der Protagonist Him ist in seiner Kritik der Digitalisierung allerdings nicht ganz das Alter Ego seines Schöpfers. Dieter Bachmann präzisiert: „Er übertreibt für mich.“ Er selbst schreibe zwar gerne mit der Hand, der Roman sei dann aber doch am Computer entstanden.
Auch im zweiten Text, den Bachmann vorliest, geht es um den Verlust der ganzheitlichen Wahrnehmung beim Schreiben durch den Vormarsch der virtuellen Welt. Die Schreibmaschinen früherer Tage glichen Persönlichkeiten, sie klapperten, das Papier raschelte, das Tipp-Ex roch, das Durchschlagpapier fühlte sich an wie Seide. Das Publikum freute sich sichtlich an der Beschreibung. Viele konnten Erinnerungen beitragen. „An der Art, wie eine Adresse getippt wurde, konnte ich früher sehen, wie wütend ein Schreiber gewesen war“, erzählt der Gemeindepräsident. Gerade weil die Zuhörer so zustimmend auf die ausgewählten Textstellen reagierten, fühlte Dieter Bachmann sich in der Diskussion veranlasst zu warnen: „Die Kritik an der Digitalisierung ist nur ein Aufhänger für das Buch. Es geht um das Leben als Ganzes.“
Der Roman „Inventur – Abschied von den Dingen“ wird vermutlich im Frühjahr 2018 erscheinen.
Video zur Lesung von Dieter Bachmann
Dieter Bachmann im Diskurs. Bild: Inka Grabowsky
Der Ort des Geschehens: Hier wurde die diesjährige Literatur am Untersee eröffnet. Bild: Inka Grabowsky
Von Inka Grabowsky
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