von Jeremias Heppeler, 30.01.2018
Zu Gast im Kunstraum: Ein Alchemist und ein Astronom
Raus in die Unendlichkeit: Heiko Blankenstein und Hicham Berrada zeigen im Kunstraum und Tiefparterre Kreuzlingen die Komplexität der unendlichen Weiten. Und versuchen die üblichen Sehgewohnheiten zu brechen
Die bildende Kunst kennt keine Grenzen. Das ist ein Fakt. Es gibt keinerlei Beschränkungen. Das ist sogar elementar. Und doch beschäftigt sich ein Grossteil des Kunstdiskurses stetig mit dem explizit Menschlichen. Weil wir das täglich spüren und fühlen, weil es uns immer wieder aufs Neue umgibt, verletzt, umschmeichelt. Und doch können wir uns die Frage stellen, warum wir im Angesicht aller nur denkbarer Möglichkeiten immer und immer wieder nur auf uns selbst blicken. Warum nicht den Blick in den Himmel richten? Und weit darüber hinaus. Ins All. Ins Allumfassende. Ins Astronomische.
Im Kunstraum Kreuzlingen und dem dazugehörigen Tiefparterre zeigt Kurator Richard Tisserand derzeit zwei Künstler, die sich nur zu gern in die Unendlichkeit denken. Der eine, Heiko Blankenstein (Ausstellungstitel "Who needs gravity anyway?"), macht das bewusst und mit aller Konsequenz, dem anderen, Hicham Berrada (Ausstellungstitel "Présages"), wird das kosmische von seiner einzigartigen Bildsprache ein wenig untergejubelt. In der bewussten Kombination aber wird der Rezipient zum Erforscher der fremdesten Welten – und muss dafür nicht einmal in einen Raumanzug schlüpfen.
Wie soll man das in Worte fassen, dieses unendlich Weite?
So weit so gut… und ich soll das jetzt in Worte fassen? Das Kosmische. Die unendliche Weite. All jene Dimensionen, die für uns nicht mehr denkbar sind. Wenige Stunden, nachdem ich ein wenig verplant in den Kunstraum marschierte und dort ob der schieren Durchschlagskraft des blankenstein’schen Universums zusammen zuckte, sitze ich vor meinem Laptop und ringe um Worte. Vor mir liegt das Unbeschreibare, das sich so konsequent visuell manifestiert, das man es kaum noch in das Medium der Sprache übersetzen kann. Aber auch die Sprachlosigkeit, ja die Überforderung bietet eine Aussage. Aber ich kann ja schlecht gar nichts schreiben. Oder: Schaut es euch halt selber an! Das wäre vielleicht ein interessanter Kniff, ein ganz spassiger Gag, aber eben auch ziemlich feige. Versuchen wir es also ganz handwerklich und bodenständig. Ekhprasis heisst das, wenn der Erzähler ein Kunstwerk beschreibt.
Video: Arte über die Arbeit von Hicham Berrada
Die Installation erfüllt den gesamten Kunstraum, sie sitzt mittig, wie eine gigantische Spinne im Netz. Zunächst blicken wir in eine Art Schlund oder Trichter, geformt aus Holz, umhangen und erleuchtet von einer ganzen Reihe Mehrfachsteckdosen und kalten Leuchtröhren. Die Machart erinnert an eine Rohbau, alles ist funktionell, auch wenn die Funktion uns verborgen bleibt. Der Künstler selbst wird später den Verweis auf einen Reaktor anbringen und tatsächlich befindet sich in der Mitte des Monstrums eine undefinierbare Form im Raum, die wir nun gleichermassen als Atom oder Fixstern oder beides gleichzeitig deuten können. Bevor es aber so richtig zur Reflektion kommen kann, wird der Blick bereits weitergeleitet auf zwei Kästen, die der Reaktor in den jetzt noch toten Raum gebärt und die wir zunächst als Bildschirme deuten. Wer nun aber den Reaktor umläuft stösst auf zwei kleinteilige Zeichnungen, die zunächst eine digitale Oberfläche imitieren, auf den zweiten Blick aber zärtlichste und zutiefst anloge Stift- und Pinselstriche offenbaren. Und hier nun, ganz deutlich: Der Kosmos. Der ewige Raum, der die Planeten in direkter Assoziation zu Blankensteins dreidimensionalen Schaukasten umspielt.
Träge Sehgewohnheiten bricht Heiko Blankenstein nur zu gerne auf
So entrückt das Werk, so zurück genommen der Künstler. Heiko Blankenstein spricht konzertiert über seine Arbeit. Immer wieder blättert er in seinen älteren Katalogen und verweist auf frühere Skulpturen und Bilder. Im Zentrum aber, das merkt man schnell, steht die schiere Lust. Am malerischen, oft 100 Arbeitsstunden fressenden Prozess, den er selbst als meditativ beschreibt. Am Handwerk. Am visuellen ausprobieren und abarbeiten, am Vermischen der zwei- und drei dimensionalen Medien. Eine solche Überlagerung irritiert das Publikum, das seine Bilder am liebsten sicher und abgesichert an der Wand weiss. Weil sie dort schön berechenbar in den erwartbaren Rahmen passen. Keine Gefahr, keine Überraschung.
Diese trägen Sehgewohnheiten bricht Blankenstein nur zu gerne auf. Er spricht von einem Gesamtkunstwerk, auch wenn ihm dieser Begriff schon wieder zu gross und prätentiös daher kommt. Denn: „Das macht halt einfach auch Spass, hier mit fünf Leute an so einem Objekt zu schrauben und zu basteln.“ So einfach kann es manchmal sein. Und: „Die Sachen sind auch immer haarscharf am Kitsch vorbei. Und das find ich auch gut. Das muss auch mal ein bisschen weh tun. Ich finde Kunst langweilig, die einem nicht auch ein wenig auf die Füsse tritt. Es muss nicht immer alles trendy sein, das finde ich teilweise ultra langweilig.Ich finde ein bisschen an der Schmerzgrenze darf es sein. Ich will alles zeigen, Skulptur und Zeichnung, das ist ein entscheidender Aspekt. Eins ist mit dem anderen verwoben.“ Bei aller Grösse des Sujets strebt der Künstler stetig nach einem fast spielerischen Zugang. Die Installation, die den Kunstraum gegenwärtig um schreibt, ist aus Dach- und Holzlatten genagelt. Ein unedles Material, das im konsequenten Gegensatz zu allen technisierten Science Fiction-Träumereien steht.
Abtauchen in andere Welten: Hicham Berrada zeigt Arbeiten im Kunstraum Kreuzlingen. Bild: PD
Blankenstein beschreibt sich als von kleinauf fasziniert von der Astronomie. Heute ist er Forscher, wenn auch kein Wissenschaftler. Alles Wissen, das er über den Diskurs besitzt, übersetzt er in seine eigene Sprache und Bildsprache, die keinesfalls auf wissenschaftliche Korrektheit pocht. Das führt zu einem faszinierenden Umstand: Blankenstein arbeitet Zitateur, er macht das Zitat zu einem entscheidenden Werkzeug – allerdings zitiert er nicht nur sporadisch in der Popkultur und der Kunstgeschichte, sondern vor allem in der Astronomie. Dieser eigentlich unspektakuläre Vorgang reisst ein Loch ins Raum-Zeit-Bild-Kontinuum, durch das Künstler nun immer wieder aufs neue springen kann und das sich im finalen Bild der Ausstellung zur Schau stellt. Dort nämlich kracht eine seiner geometrischen Formen, ein aufgefächerter Sci-Fi-Polyeder in eine 19. Jahrhundert-Bleistift-Landschaft. Und am liebsten möchte man sich selbst in diese neueröffnete Welt tauchen – doch im Keller wartet bereits das nächste Abenteuer.
Bei Hicham Berrada entstehen Welten im Wasserglas
Tisserand stiess aufs Hicham Berradas Arbeiten, als die Planungen mit Blankenstein schon fortgeschritten waren. Vielleicht wäre er ansonsten, damals im Palais de Tokyo, einfach an den merkwürdigen Arbeiten des Franzosen vorbei marschiert. So aber klickte es beim Kurator, der von Zeit zu Zeit seine beiden Räumlichkeiten durch gezielten Künstlereinsatz kombiniert und konfrontiert. Berradas Arbeiten funktionieren primär performativ. Berrada sitzt vor einem Wasserglas, einem elektrolytischen Bad, und träufelt unterschiedliche chemische und zuvor erhitzte Wachse in die bis dahin durchsichtige, dreidimensionale Leinwand. Die Wachse suchen einen Ausweg, wollen aufsteigen, werden klein gehalten und formen in der Folge die wildesten Landschaften aus.
Es entstehen Welten im Wasserglas, auch hier und ein ambivalentes Bildflimmern zwischen Mikro- und Makrokosmen, zwischen Weltall und Molekülen. Auch Berrada vermischt die Sphären: Er ist Künstler, schon klar, aber auch Chemiker und Alchemist. Ein dreidimensionaler Landschaftsmaler, der sich dem Zufall hingibt. Im Kunstraum sind seine Arbeiten nun auf Film gebannt und laufen auf drei nebeneinander stehenden Leinwänden. Wir Rezipienten stehen auf Augenhöhe und können kaum fassen, was gerade passiert. So dicht, so detailreich, so unberechenbar, so utopisch und gierig erscheinen die nun fimischen Expeditionen ins Herz des Experiments, dass wir abermals um ein Haar aufgesaugt worden wäre.
Am Ende muss man sich fast gewaltsam loseisen, damit man zurück in die kalt kahle Winterluft hetzen kann. Dort, wo das Menschliche schon wieder auf uns wartet. Aber jetzt bleibt dann doch nur eins zu sagen: Schaut es euch halt selber an! Unbedingt!
Termin: Beide Ausstellungen sind bis zum 18. März zu sehen. Die Öffnungszeiten: Fr 15 – 20 Uhr, Sa / So 13 – 17 Uhr. Der Eintritt ist gratis
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