von Brigitte Elsner-Heller, 25.09.2018
Aus dem Wald, in die Kunst
„Withdraw – Into the Mountains“ ist ein Kunstprojekt, das in Zusammenarbeit zwischen der Kroatischen Vereinigung der Bildenden KünstlerInnen (HDLU) und Shed im Eisenwerk entstanden ist. Eine einwöchige Wanderung im kroatischen Velebit-Gebirge wurde dabei zum Ausgangspunkt.
„Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näher zu treten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hätte, damit ich nicht, wenn es zum Sterben ginge, einsehen müsste, dass ich nicht gelebt hatte.“ Wenn die Kuratorin Katja Baumhoff in der Shed-Halle im Eisenwerk an die berühmten Zeilen aus „Walden“ von Henry David Thoreau erinnert (1854 erschienen), klingt sie amüsiert. Schliesslich hat sie auch dazu recherchiert und dabei entdeckt, dass die Hütte, die Thoreau für zwei Jahre bezogen hatte, nicht weit von seiner Heimatstadt lag. Und dass er das wöchentliche Waschen der Wäsche seiner Mutter überlassen hatte.
Warum der Rückzug in die Berge?
Die Frage stellt sich natürlich, wie Thoreau in einen kunstgeschichlichen Kontext gerät, noch dazu in die Shed-Halle, in der kein Wind durch die Bäume streicht, wo Essen und Trinken nicht fern sind und auf gute Unterhaltung Wert gelegt wird. In der Tat ist es aufschlussreich, sich von Katja Baumhoff die Geschichte zur aktuellen Ausstellung „Withdraw – Into the Mountains“ erzählen zu lassen. Kuratiert hat sie sie zusammen mit Bojan Mucko und Josip Zanki.
Vor zwei Jahren haben sich Baumhoff und der Präsident der Kroatischen Vereinigung Bildender KünstlerInnen, Josip Zanki, bei einer Kulturveranstaltung im Thurgau kennengelernt und dabei ein gemeinsames Kunstprojekt ins Auge gefasst. Um Berge sollte es gehen – irgendwie wohl. Konkreter wurden die Pläne im vergangenen Jahr, als Katja Baumhoff das Kroatische Velebit-Gebirge besuchte. Eine karstige Berglandschaft, die so gar nichts mit den Schweizer Bergen zu tun hatte. Eine Wildnis auch, die sich durch die Gefahr von Landminen wieder in der Kulturlandschaft breit gemacht hatte, während in der Schweiz Subventionen fliessen, damit die Bauern die Landschaft als Kulturlandschaft erhalten (Baumhoff spricht dabei sogar von „Retrotrend“). Bojan Mucko und Josip Zanki, die beiden kroatischen Kuratoren, konnten sich davon bei ihrem Gegenbesuch überzeugen.
Bilderstrecke: Einblicke in die Ausstellung
„Logistik war ein Thema“
Wie weiter? Die kulturelle Arbeitsgruppe, an der jeweils drei KünstlerInnen aus Kroatien und aus der Schweiz sowie vier Studierende der Anthropologie beteiligt wurden, fingen an, das Thema „Berge“ aus unterschiedlichen Blickwinkeln heraus zu untersuchen. Geplant waren sechs gemeinsame Tage in der Wildnis des Velebit-Gebirges. „Die Logistik war ein Thema“, erinnert sich Katja Baumhoff. Übernachtet wurde in Zelten, zuletzt in einer Hütte, Selbstversorgung war keine Option, sondern ein Muss. Zur Planung gehörte natürlich auch die Frage, wie die Erfahrungen auf der Ebene von „Kunst“ aufgearbeitet werden sollten, wobei eine Präsentation in Form einer Ausstellung am Anfang stand. Dass sich daraus auch eine schmale, doch kunstvolle Publikation ergeben würde, kristallisierte sich erst während des laufenden Projekts heraus.
Und nun im Eisenwerk, in der Shed-Halle: Installatives, das durchaus erklärt werden will. Zunächst Vanja Babić, der eine Nachtkamera durch die Berge transportierte und während der Unternehmung jede Minute ein Bild machte – was sich auf 10.000 Bilder aufsummierte. Eine kleine Auswahl davon (3x11 eher kleinformatige Abzüge in Schwarzweiss) werden nun präsentiert, dazu ein weiterer Zusammenschnitt einer Auswahl, die als Video vorgeführt wird. „Interessant ist hier die Frage, was Dokumentation und was Kunst ist“, ergänzt Katja Baumhoff, bevor man vor einer Sammlung von Konservendosen steht. Auch in diesem Fall ist Vanja Babić der Urheber und quasi Archivar der Wanderung: Er hat die leeren Konservendosen gesammelt und mit Material gefüllt, das von der Wanderung stammt.
«Interessant ist hier die Frage, was Dokumentation und was Kunst ist.»
Katja Baumhoff, Kuratorin
Daneben, geradezu einsam anmutend, eine Installation von Esther Mathis. Sie beschäftigt sich mit dem Thema Schutz, stellt einen Helm aus und eine Arbeit, die aus einer Kopfschale sowie Füssen besteht, die in dem Abstand angebracht sind, die etwa eine Körperlänge ausmacht. Mathis konnte zwar nicht mitwandern, ist aber in das Projekt eingebunden geblieben. Zumal ihre Arbeit sich nahtlos an ein Brauchtum aus dem Velebit-Gebirge anschliesst: Dort wurden Tote bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zunächst zwischen zwei Steine gelegt (einen Kopf- und einen Fussstein), um der Seele Zeit zu geben, dort einen Ort zu finden. Ein Beitrag von Josip Zanki in der ansprechenden Begleitpublikation geht auf das Beerdigungs-Ritual „Mirila“ näher ein.
Grossformatige C-Prints von Andri Stadler nehmen eine Wand in der Shed-Halle für sich in Anspruch, es handelt sich dabei um Fotografien, die ohne Objektiv entstanden sind und daher nur noch die Idee beinhalten dass von Objekten reflektiertes Licht – gemeinhin vom Gehirn als Bild interpretiert – technisch eingefangen wird. Auf der Grenze zwischen Kunst und Dokumentation dann wieder die Zeichnungen von Ivana Pipal in einer Vitrine, mit denen sie skizzenhaft das festhält, was sie im Velebit-Gebirge erlebt hat. Jovana Popićs hat Ähnliches im auditiven Bereich unternommen, hat Windgeräusche festgehalten, aber auch den Versuch der Beteiligten, sich mit Gesängen wie Schamanen zu fühlen. Und Luise Kloos hat die Bergsilhouetten in Malerei umgesetzt.
Auch eine Geschichte von Rollenbildern?
Das Zentrum der grossen Ausstellungshalle bespielt Nicola Genovese, der sich mit der sogenannten Prepperszene beschäftigt hat – jenen Menschen, die sich durch diverse Schutzmassnahmen auf grössere Störfälle vorbereiten. Unter anderem auch durch den Rückzug ins Gebirge. Für Genovese ist dies Anlass, sich mit weiblichen und männlichen Rollenbildern zu beschäftigen, da er für sich den Schluss gezogen hat, dass diese Art des Rückzug eine ausgesprochen maskuline Prägung hat. In seiner Installation schlängelt sich ein überdimensioniertes Kissen durch den Raum, wobei eine Holzklappe des Shedbodens Assoziationen zu einem Unterstand weckt. Wie bereits bei der Vernissage wird Nicola Genovese noch einmal am 28. September 2018 mit einer Performance die Installation bespielen.
Mit der Dokumentation des Projekts, in dem auch Tagebucheinträge von Ivan Barun, Katrin Radovani und Josip/Slaven Zanki verarbeitet werden, erhält „Into the Mountains“ seinen krönenden Abschluss und auch die ethnografische Aufarbeitung. Kreativität drückt sich dabei nicht nur im Layout aus und der Idee, sich an Konzepten zu orientieren, die die Macher von Kochbücher nutzen. Auch die (englischen) Texte sind erfrischend heterogen und nicht nur dokumentarisch, sondern teilweise auch fiktiv. So lässt Josip Zanki einfach seinen Cousin Slaven mitwandern.
Finissage: Freitag, 5. Oktober 2018, 19 Uhr. Die Ausstellung wird in leicht abgeänderter Form im Januar 2019 im Meštrović Pavillon in Zagreb gezeigt. Im Sommer 2019 wird das Projekt in den Bergen der Steiermark weitergeführt.
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