von Julia Christiane Hanauer, 20.10.2017
Eine entlarvende Hommage
Sie ist eine Hommage, eine Entlarvung, eine Aufdeckung des Seins als Schein. Gleichzeitig regt sie zum Nachdenken an, zeigt und weckt Emotionen – und ist Ästhetik pur. „Filmstill“ heisst die Ausstellung von Matthias Gabi, die noch bis 7. Januar im Kunstraum Kreuzlingen zu sehen ist.
Von Julia Christiane Hanauer
Es ist das Jahr 1878, als der Fotograf Eadweard Muybridge das schaffte, was bis dato unmöglich war: bewegte Bilder. Kurz gesprochen: Er schaffte es durch eine bestimmte Kameraanordnung, und somit der Aneinanderreihung von Fotografien, ein Pferd im Galopp – also in Bewegung – zu zeigen. Damals eine Sensation. Der Beginn einer neuen Ära. Heute gehört Bewegtbild ganz selbstverständlich zum Alltag. Auch Filmen geht mittlerweile ganz einfach, jeder kann es tun: Handy an und los geht’s. Dass Film die Zusammensetzung vieler einzelner Bilder zu einem Gesamten ist, wird dabei meist überhaupt nicht mehr bedacht. Matthias Gabi setzt hier mit seinem Werk einen Kontrapunkt und lenkt die Aufmerksamkeit dorthin, wo alles anfing.
Antworten bleiben aus
Es ist eine Kinosituation, in der sich der Besucher beim Betreten des Tiefparterres wiederfindet. Zwei Stühle stehen inmitten des dämmrigen Raumes, davor ist ein Kasten positioniert, aus dem der Lichtstrahl des Projektors ein Bild auf eine Wand projiziert. Das Gesicht eines Mannes ist zu sehen. Nah. Es ist ein perfektes Porträt: Sein Gesicht, die Stirn in Falten gelegt. Akkurat nach hinten gekämmtes Haar. Der Blick, der in die Ferne geht. In der Brille spiegelt sich ein Licht. Was ist das für ein Licht? Was sieht der Mann? Was bewegt ihn? Fragen, die aufwallen. Antworten, die ausbleiben. Und dann erscheint nach acht Sekunden ein neues Porträt – mit genau der gleichen Ausstrahlung, Intensität und Ästhetik.
"Filmstill" zeigt, was sonst verborgen, ja vielleicht auch ungesehen bleibt. Man könnte sagen, Matthias Gabi schlägt den umgekehrten Weg zum Filmemachen ein: Er nimmt einzelne Bilder aus ihrem filmischen Kontext und stellt sie aus. Ohne jegliche Bewegung, ohne Zusammenhang, ohne Ton. „Matthias Gabi wählt einen Moment, in dem etwas entschieden wird“, erläutert Kurator Richard Tisserand. Und diese Spannung ist extrem spürbar. Als Zuschauer ist man geneigt, die Hand auszustrecken und auf der Fernbedienung die Playtaste zu drücken, um endlich zu erfahren, was die Person bewegt. Doch dieses Wunsch bleibt unerfüllt.
Einblicke in das Filmemachen
Die Bilder stellen aus, was sie sind: In ihrer Ästhetik perfekt inszeniert. Sie zeigen, was Film kann und mit welchen Mitteln. Die Protagonisten sind sehr bekannte Schauspielgrössen. Und damit entlarvt das Werk von Matthias Gabi den Prozess des Filmemachens. „Es deckt auf, wie die Bilder ausgeleuchtet werden und gibt einen Blick darauf, wie der Film montiert ist“, sagt Tisserand. Es sind emotionsstarke Momente, die herausgehoben werden. Momente, die bei der Rezeption des bewegten Bildes nicht unbedingt wahrgenommen werden, ein winziger Teil des Ganzen sind. Auffällig ist, dass Gabi hauptsächlich sehr dunkle Ausschnitte gewählt hat, in denen jedoch das Spiel mit dem Licht perfekt in Szene gesetzt ist. „Die Bilder wirken wie Stillleben“, meint dazu der Kurator. Die Hintergründe sind stets verschwommen. In den Gesichtern rücken vor allem die Augen in den Fokus. Es sind die Blicke, die meist auf irgendetwas ausserhalb des Bildes gerichtet sind, die eine Leerstelle entstehen lassen, welche der Rezipient füllen möchte, es aber nicht kann.
Willkommen zur Ausstellung im Tiefparterre Kreuzlingen: Kurator Richard Tisserand freut sich auf die Besucher. Bild: Julia Christiane Hanauer
Je länger man sich Matthias Gabis Arbeit anschaut, desto mehr Fragen entstehen. Denn die Porträts erinnern nicht nur an Stillleben. Sie erinnern an viele Motive aus der Kunstgeschichte: An die Werke eines Jan Vermeers, der nicht nur äusserst präzise Porträts malte, sondern ebenfalls oft Leerstellen in seinen Bildern liess. An Edward Hopper und seine Räume. An Tafelbilder. Es ist eine Verstrickung aus Kunst, Film und Filmkunst, die hier ganz explizit zum Tragen kommt. „Es verweist auf das, was wir wissen und dann entsteht das, was eigentlich interessant ist: Was wir daraus machen“, sagt Kurator Tisserand.
Der Raum als krasser Kontrast
Und dann spielt im Tiefparterre noch ein Aspekt hinein, der nicht in Matthias Gabis Werk impliziert ist: der Raum. Mit seiner Rohheit und Unfertigkeit steht er im krassen Kontrast zu den ästhetisch perfekt inszenierten Bildern – und wertet sie damit zusätzlich auf. Zugleich gibt er der Arbeit aber auch einen geeigneten Ort, denn durch die quadratischen Säulen und die tiefe Raumflucht vermittelt er eine Situation, die ans Kino erinnert – und damit die Porträts in den Kontext setzen, aus dem sie kommen. Aber vielleicht ist es auch nur das, was wir wissen und was wir daraus machen.
Termin: Eine Lecture Performance (was das ist, siehe Video unten), bei der der Künstler Matthias Gabi aus seinen Fotobüchern vorliest, findet am Sonntag, 3. Dezember, ab 11 Uhr im Tiefparterre statt.
Das grosse Jugendbuch from Matthias Gabi on Vimeo.
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