von Samantha Zaugg, 28.05.2018
Eine Stadt feiert das Buch
Das Frauenfelder Bücherfest ist eröffnet. Grund genug mit vier Persönlichkeiten aus der nationalen und lokalen Kulturszene über das Lesen zu sprechen.
Die Stadt hat sich herausgeputzt. Viele der Gäste im Rathaussaal am Freitagabend haben ihre besten Kleider aus dem Schrank geholt. Etuikleider, Ledersandaletten und Lippenstift. Hemden, Sakko und Budapester. Und all das, weil sich Menschen versammeln um das Buch zu feiern. Savoir-vivre liegt in der Luft – es steht der Stadt gut an.
Nach Eröffnungsreden von Buchhändlerin und OK-Mitglied Marianne Sax, Stadtpräsident Anders Stokholm und Literaturwissenschaftlerin Christine Lötscher folgt die Lesung. Der schottische Schriftsteller Martin Walker bringt einen zusätzlichen Hauch Weltgewandtheit in den Saal. Im Gespräch mit Diogenes Verlegerin Ruth Geiger plaudert Walker über die obligaten Themen Wein und Essen, und erzählt Anekdoten aus seinem Leben zwischen Washington und Périgord im, einer Region im Südwesten Frankreichs. Von seinen Hühnern, die er beobachtet bis er ihren Charakter kennt, und denen er dann nach den passenden Politikern benennt.
Schauspieler Hanspeter Müller-Drossaart liest aus dem aktuellen Bruno-Roman, und weil es in einer Passage um ein Lied geht, beginnt Martin Walker gleich zu singen. Und weil es ihm so gut gefallen hat singt er gleich noch ein Lied.
Nun soll Sie dieser Text nicht weiter mit Details des Abends berieseln, sondern er soll Lust am Lesen machen. Wenn eine ganze Stadt das Buch feiert, deshalb folgend ein paar Gedanken zum Buch.
Hanspeter Müller-Drossaart, Schauspieler
Was bedeutet für sie ein Buch?
Das ist für mich die autonomste Möglichkeit die eigene Kunst zu erleben. Die Bilder, die ich mir beim Lesen mache sind nur meine, die kann mir niemand vorgeben. Ich nehme die Worte und dann passiert bei mir etwas, Explosionen in meinem Kopf. Ich kann den Rhythmus bestimmen. Ich kann aufhören zu blättern, kann nochmals zurückgehen, kann es morgen nochmals lesen. Es ist etwas, das dermassen momentbezogen ist, weil die Zeitentwicklung nicht bestimmt ist. Die Buchstaben, die sind immer gleich da, ob ich ein dreissigjähriges Buch lese oder eins von heute, die bleiben. Aber in diesem Moment, in dem ich es lese, da passiert etwas.
Was soll Literatur in der heutigen Zeit können?
Sie soll immer das gleiche. Sie soll mich verführen, soll meine scheinbare Gewissheit irritieren, auf den Kopf stellen, mich probieren zu unterhalten.
Muss man ein Buch immer zu Ende lesen?
Nein, finde ich nicht. Es gibt zu viele gute Bücher, und da darf man im Dienst des Buches, im Dienst der treuen Beziehung zur Literatur darf man ein Buch, das nicht so gelungen ist, oder zu dem man im Moment den persönlichen Zugang nicht findet, weglegen. Aber ich mache das auch noch nicht lange so.
Marianne Sax, Buchhändlerin und OK-Mitglied
Haben sie schon als Kind gelesen?
Ja, sehr viel. Eine grosse Angst als Kind war, dass ich eines Tages alle Bücher der Bibliothek durchgelesen habe, dass ich alle schon kenne und nichts mehr Neues zum Lesen habe. Angesichts des damaligen Bestands der Bibliothek in Weinfelden war diese Angst vielleicht gar nicht so abwegig. Vielleicht ist das einer der Gründe, wieso ich Buchhändlerin geworden bin.
Was soll Literatur in der heutigen Zeit?
Das ist immer schwierig zu sagen, was die Aufgabe der Literatur ist, ihr eine Funktion zuzuordnen. Etwas was Literatur aber auf jeden Fall soll, ist sich intensiv mit bestimmten Themen auseinandersetzen. Ein Thema ist nicht richtig aufgearbeitet bis ein Buch darüber geschrieben wurde. Das Buch ist nach wie vor das Medium, das die vertiefteste Auseinandersetzung ermöglicht.
Welches Buch hat bei Ihnen die stärksten Reaktionen oder Emotionen ausgelöst?
Da gibt es viele. Da kann ich nicht ein einzelnes nennen. Es gibt zwar schon Bücher, die bei mir bestimmte Emotionen auslösen. Zum Beispiel Trost. Jane Austen spendet mir Trost. Immer wenn jemand gestorben ist, muss ich etwas von Jane Austen lesen. Manchmal auch gleich mehrere Bücher.
Martin Walker, Historiker, Journalist und Schriftsteller
Was kann Literatur?
Literatur kann alles. Da gibt es keine Grenzen. Sie kann neue Perspektiven aufzeigen, kann Geschichte und Ereignisse aufarbeiten. Man kann so viel lernen durch Bücher. Ein Buch zu lesen, das gibt mir die Möglichkeit in eine andere Welt einzutauchen, oder sogar in eine andere Zeit. Es ist auch eine Möglichkeit, dem Alltag zu entfliehen, eine Art Eskapismus.
Haben sie schon als Kind gelesen?
Ich hatte einen wundervollen Grossvater. Durch ihn bin ich zu den Büchern gekommen. Er hat mir vorgelesen, oder mir Bücher gegeben. Klassiker, wie zum Beispiel Sherlock Holmes. Damals war ich vielleicht acht oder neun Jahre alt.
Welches Buch hat bei Ihnen die stärksten Emotionen ausgelöst?
Meine eigenen Bücher lösen bei mir starke Emotionen aus. Natürlich vor allem deshalb, weil ich sie selber geschrieben habe, weil ich viel Arbeit hineingesteckt habe. Wenn meine Bücher gelesen werden, wenn sie sich gut verkaufen oder eines öffentlich gelobt wird, dann sind das starke Emotionen. Es macht mich zum Beispiel auch stolz, wenn es eins meiner Bücher in der Schweiz auf eine Bestsellerliste schafft.
Bernhard Bertelmann, Leiter Kantonsbibliothek Thurgau
Was bedeutet es für Sie ein Buch zu lesen?
Ein Buch zu lesen bedeutet für mich, in eine andere Welt abzutauchen oder mich in eine andere Person einzufühlen. Ich kann Welten ausprobieren, Leben ausprobieren. Das hat für mich nichts mit Alltagsflucht zu tun, sondern eher damit, sich mit der Welt und den verschiedenen Situationen in der Welt auseinanderzusetzen.
Was soll Literatur in der heutigen Zeit?
Ich denke schon, dass mit der Literatur die Möglichkeit da ist, andere Leute zu verstehen, oder auch die Welt besser zu verstehen, indem man Geschichten durchlebt. Ich denke auch bei den Kindern, die die Möglichkeit haben Sachen auszutesten, die Perspektiven verschiedener Personen zu durchleben, ist es auch ein Weg Verständnis zu bekommen.
Muss man jedes Buch fertiglesen?
Ja. Man muss einfach jedem Buch eine Chance geben. Und lesen macht gescheit, das darf man auch nicht vergessen.
Das Frauenfelder Bücherfest bietet noch bis Sonntag zahlreiche Lesungen, Diskussionen, Konzerte und andere Anlässe rund ums Buch. Das Programm finden Sie hier.
Weitere Beiträge von Samantha Zaugg
- «Das kannst du in Frauenfeld nicht machen» (10.10.2018)
- Die Entdeckung des Raumes (25.06.2018)
- «Es ist eine Kulturbombe» (02.05.2018)
- Das Leben als Revolte (23.04.2018)
- Die heilige Einfaltigkeit (19.02.2018)
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- Bericht
- Interview
- Belletristik
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