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von Jochen Kelter, 09.01.2018

Nach der Willkommenskultur

Nach der Willkommenskultur
Bei der Arbeitsgruppe für Asylsuchende Thurgau (AGAThu) bekommen Flüchtlinge Lebenshilfe und Sprachunterricht | © AGAThu (Arbeitsgruppe für Asylsuchende Thurgau)

Binjam, Hassan, Maebel, Mustafa und die anderen: Flüchtlinge in der Schweiz. Seit zwei Jahren engagiert sich der Schriftsteller Jochen Kelter in der Flüchtlingsarbeit. Jetzt hat er seine Erfahrungen aufgeschrieben

Von Jochen Kelter

Anfang 2016 fing ich in der Lernwerkstatt der Thurgauer Flüchtlingshilfe in Kreuzlingen an, einmal pro Woche Deutsch zu unterrichten. Einige Wochen zuvor hatte ich zufällig einen alten Bekannten auf der Strasse getroffen, den Präsidenten der „Arbeitsgruppe für Asylsuchende Thurgau“ (AGAThu), über die ich in der Zeitung gelesen hatte, und ihn ein wenig ausgefragt. Ich war, auch weil ich über die nötige Zeit verfügte, der Ansicht, die Zivilgesellschaft müsse sich in der Flüchtlingsfrage, also einem gesamtgesellschaftlichen Problem engagieren, da der Staat nur zögerlich und bürokratisch eingreift. Gelernt habe ich seither: Aus der Zivilgesellschaft, die von den Behörden, in der Flüchtlings- wie vermutlich in anderen Fragen, als lästig betrachtet wird, kann man, wo man konstruktiv und kompetent in der Sache argumentiert, durchaus Druck ausüben.

Aber nun sass ich erst einmal in den Räumlichkeiten bei den Bahngleisen nahe der Grenze, die aus einem PC-Raum, einem Spielzimmer für Kinder und Mütter und einem grossen Café bestehen, in dem auch Versammlungen und Unterricht stattfinden, und versuchte, Kleingruppen von jungen Männern aus Somalia, Afghanistan und Eritrea Deutsch beizubringen. Ich habe in früheren Jahren auf Gymnasial-und Hochschulstufe unterrichtet, auch ein paar Jahre in einem Industrieort nicht weit von der Schweizer Grenze eine Schreibwerkstatt geleitet, als das noch nicht Mode oder Auskommen für Autoren war, in der es weder Gymnasiasten noch Studenten oder Akademiker gab. Jetzt aber arbeitete ich mit bunten Kärtchen, auf denen Gegenstände abgebildet waren, mit Lehrmaterial, das häufig aus Deutschland stammte, also nicht immer geeignet war und das wir uns selber aus dem Internet luden, oder den Lehrbüchern, die die Schüler aus ihren Gemeinden mitbrachten, wo sie mit Glück zwei Stunden pro Woche unterrichtet werden. Die Gemeinden zahlen, also bestimmen sie. Da gab es zum Beispiel in einem Lehrbuch für Fremdsprachige eine Geschichte von drei Jugendlichen, die ein Wochenende in London verbringen, vom trendigen East End über Covent Garden bis St. Paul's, wenig hilfreich für Jungs, die kaum wissen, wo London oder Berlin liegen und, vielleicht nach Khartum oder Tripolis, als erste Grossstadt in ihrem Leben Zürich gesehen haben.

Die kulturellen Gräben sind abgrundtief

Die Jungen kleiden sich zwar wie die unseren, haben Smartphone und Whatsapp. Aber die kulturellen Gräben sind abgrundtief  durch Sitten, Sprache, Gesellschaftsstruktur und kulturelle Kenntnisse. Sie wissen nicht, wohin der Rhein fliesst, wo Syrien liegt und  Asien beginnt. Sie kennen die Geschichte ihrer Herkunftsregionen so gut wie nicht, sie haben keine Ahnung von Syntax, Semantik,  Morphologie, ich kenne ihre semitischen Sprachen nicht, deren Schrift, Arabisch oder Tigrinja, mir fremd ist.  Sie haben die lange gefährliche und teure Reise zu uns hinter sich , und ein Teil erwartet den Rest nun von uns. Ein grundlegendes Missverständnis. Wir haben nicht auf sie gewartet, und manche glauben, hier flössen Milch und Honig. Dabei fliesst nur der Verkehr schneller, der Alltag ist durchstrukturiert und vom kapitalistischen Arbeitstakt bestimmt.  Sie haben auch keine Kenntnis von diesem Alltag, haben jenseits ihrer Smartphones keine Ahnung von der Digitalisierung, von Arbeitsteilung, den mittlerweile neuen Berufen, kennen aber auch die traditionellen Berufe wie Pfleger, Verkäufer. Fliessenleger oder Chauffeur nicht wirklich. Alle möchten am liebsten  Automechaniker werden, ein Beruf, der durch den Mechatroniker ersetzt worden ist, für den man also Informatikkenntnisse benötigt. Und natürlich gibt es Unterschiede zwischen den Herkunftsländern. Afghanen etwa lernen, wegen der Schulbildung daheim? Ich weiss es nicht, schneller Deutsch als etwa Somalier und Eritreer (die drei Nationalitäten bilden den Hauptteil unserer Klientel), aber auch Mathematik und die Grundlagen von Geometrie, Voraussetzungen für eine Anlehre oder gar Lehre. Nicht vergessen darf man, dass viele durch ihre in der Regel lange und strapaziöse Reise nach Europa unter somatischen oder psychosomatischen  Störungen leiden, deren Ursache ihnen oft gar nicht bewusst ist. Und sie müssen mit dem zum Teil gewaltigen Erwartungsdruck fertig werden, der von daheim auf ihnen lastet. Die Familie, der Clan haben sich oft hoch verschuldet, um das Geld für die Flucht zusammenzubringen, und erwarten nun, dass die, die sich auf den Weg gemacht haben, bei uns ihren Weg machen, ohne sich vorstellen zu können, welch ungeheure Anstrengung das für diese bedeutet.

Ein anerkannter Zürcher Jugendpsychologe, der schon lange und viel mit Flüchtlingen arbeitet und einen ungeschminkten Blick auf sie besitzt, hat im Frühjahr dieses Jahres den Vorschlag gemacht, die Schweiz solle sich mit einem Selektionssystem im Herkunftsland die jungen Leute aussuchen, die  für eine berufliche und soziale Integration geeignet erscheinen. Sie könnten dann legal einreisen, so würde den Schleppern das Handwerk gelegt, aus Flüchtlingen würden  Auszubildende, denen eine lange und gefährliche Reise erspart bliebe. Die Familien würden 1.000 oder 2.000 Franken an die Ausbildung bezahlen, also weniger als den Preis der Schlepper, und die Schweiz könne erhebliche Sozialhilfekosten sparen, gleichzeitig dem Arbeitskräftemangel begegnen und trüge zur Linderung der Not in den Entwicklungsländern bei. Auf den ersten Blick kein schlechter Vorschlag.

Was bleibt von der Willkommenskultur? Bild: AGAThu

Nur: Wer würde die Jugendlichen und nach welchen Kriterien auswählen? Leistungs- und Anpassungsfähigkeit in unserer auf Leistungsoptimierung, Belastbarkeit ausgerichteten Gesellschaft dürften nicht die ausschliesslichen Kriterien sein. Wie würden soziale Intelligenz,  Empathiefähigkeit und Fantasie bewertet und von wem? Und schliesslich kennt beispielsweise  Eritrea keine legalen Ausreisen aus seinem Staatsgebiet. Und welche Staaten würden eine solche Selektion zulassen, die  sehr gut einfach auf einen „brain drain“ hinauslaufen könnte? Ein solches Ausbildungsprogrammprogramm würde sich wohl eher für in der  Entwicklungshilfe anbieten als für die Aufnahme von Fluchtwilligen.

Nicht geklärt wäre auch die Frage, wer die Ausbildung an die Hand nähme und das Geld der auszubildenden jungen Afrikaner oder Asiaten erhielte.  Der Bund, die Kantone, die Gemeinden? Denn es geht unseren Politikern und Behörden immer zuvorderst ums Geld. Heutzutage werden die Kosten vom Bund an die Kantone erstattet, die vor allem um Kostenneutralität in ihren Abschlussrechnungen bemüht sind. Die Gemeinden im Thurgau lassen sich ihre sehr unterschiedlichen Leistungen vom Kanton bezahlen. In St. Gallen übernehmen die Gemeinden möglichst viele Leistungen wie Gemeinschaftsunterbringung und Integrationskurse, um damit selbst Geld zu verdienen.

Wie ein junger Eritreer um seine Chance kämpft

Nachdem ich eine Weile einer kleinen Gruppe Eritreer versucht habe, rudimentäres Deutsch beizubringen, habe ich Anfang Februar dieses Jahres eine "Patenschaft" für F., einen jungen Eritreer übernommen, der gerade 19 Jahre alt geworden war. Wenige Tage später, am 6. Februar vergangenen Jahres bekam er vom Bundesamt für Migration (SEM) aus Bern einen abschlägigen Bescheid auf seinen Asylantrag. Er geriet in Panik und tauchte unter. Wir konnten ihn ein paar Tage später in Norddeutschland orten. Die deutsche Polizei hatte ihn im Zug erwischt und in ein Empfangszentrum gebracht. Wir konnten ihn schliesslich überzeugen, dass seine einzige Chance darin bestünde, in die Schweiz zurückzukommen, da er sonst hier als untergetaucht gemeldet und durch das Schengen-Abkommen aus Deutschland zurückgeschafft würde und hier keine Chance mehr auf Rekurs gegen seinen negativen Bescheid mehr hätte. Wir schickten ihm per Handy ein Ticket für den Fernbus, der ihn von Bremen mit möglichst wenigen Halteorten zurück an die Grenze in Konstanz brachte. Am 9. März legte der Anwalt des HEKS, des Hilfswerks der Evangelischen Kirchen innerhalb der Frist von 30 Tagen Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht in St. Gallen ein.

F. war ein Jahr lang in Äthiopien, dem Sudan, in  Libyen, auf dem Mittelmeer, wo ihr Boot von der italienischen Marine aufgebracht wurde, und in  Italien unterwegs und hat auf seiner Reise mehrfach Gefängnisse und Gewalt in verschiedenen Ländern kennengelernt. Er ist am 29. Juli 2015 in Sizilien angekommen, am 3. August in  Chiasso - er sagt, er habe immer in die Schweiz gewollt -, hat  am 4. August als allein reisender Minderjähriger (sogenannter UMA) einen Asylantrag gestellt, hatte seine erste Befragung am 25. August (bei Minderjährigen muss diese gesetzlich rasch erfolgen) und seine zweite am 15. Dezember 2015 in Bern. Nun also läuft sein Rekurs. Seit Mitte August darf er viermal in der Woche auf Kosten seiner Wohngemeinde einen erst in diesem Sommer angelaufenen Integrationskurs des Kantons besuchen. Er blüht nach zwei Jahren nutzlosen Wartens auf, will lernen und hat nun einen strukturierten Tagesablauf und engagiert sich auch in der Gemeinde. Ich wünsche ihm, dass  er aufgrund seines Lernwillens und seiner Anpassung an seine soziale Umgebung bleiben darf. Sicher ist das nicht. Den Status als anerkannter Flüchtling wird er nicht bekommen, die Justiz hat ihren Kurs gegenüber Eritreern seit Anfang des Jahres drastisch verschärft. Also muss er hoffen, als vorläufig Aufgenommener (VA), den man aus humanitären Gründen nicht zurückschicken kann, bleiben zu können.

Integration müsste sofort bei Betreten des Landes beginnen

Wenn sie effektiv und auch langfristig  Kosten sparen wollen, sollten sich die Behörden endlich dazu aufraffen, mit der Integration von Asylbewerbern sofort bei Betreten des Landes zu beginnen Und die Asylverfahren, aber das kostet natürlich Geld, drastisch verkürzen), statt Sozialhilfeempfänger zu produzieren (wie es heute 80 Prozent der über 26.000 Eritreer sind). Aber selbst dann und trotz Unterstützung durch Fachleute und Freiwillige muss in der Politik rasch ein Umdenken einsetzen, und dafür  sind auch Öffentlichkeit und Medien gefordert. Es kommen schon längst nicht mehr nur Flüchtlinge aus Kriegsgebieten, in die Schweiz kommen vor allem junge Männer aus Eritrea, Äthiopien, Somalia (wo teils Bürgerkrieg, teils Dürre und Hunger herrschen, (aus Kriegsgebieten vor allem Afghanen und Syrer). Sie kommen,  weil sie daheim keine Perspektive für ein besseres Leben haben. Und sie werden weiter nach Europa kommen trotz zeitweise blockierter Land- und Seewege. Und zwar solange der Westen, Europa und also auch die Schweiz ihre Politik gegenüber den Ländern des Südens nicht ändern. Sie mit nutzlosen Entwicklungsprojekten und Hilfsgeldern beglücken, die bei den korrupten Eliten versickern. Solange sie zu völlig unfairen Freihandelsvereinbarungen gezwungen werden, wie das die EU mit verschiedenen Regionen Afrikas getan hat. Sie werden mit billigem Hühnerfleisch und subventionierten Agrarprodukten zugeschüttet, die ihre Bauern in den Ruin treiben, ihre Küsten werden leergefischt, und ihre Rohstoffe von Kaffee über Kobalt bis zu Diamanten werden geplündert, eine konkurrenzfähige und  nachhaltige Industrie kommt auf diese Weise gar nicht zustande. So sieht die ökonomische Wirklichkeit aus, gegen die keine noch so grosse Hilfsbereitschaft ankommt.

Nachbemerkung des Autors

Den vorstehenden Text hat die Thurgauer Zeitung derart gerupft und gekürzt, dass sich das Resultat zum Schluss las wie das Adventsgeplauder über die verlorenen Kindlein. Kein Hauch mehr von kritischem Kommentar zur Politik der Behörden oder der unseligen Handelspolitik des Westens. Der Konstanzer Südkurier meinte, der Artikel sei im Thurgau besser aufgehoben, bei ihnen seien die Verhältnisse ganz andere. Das Kulturmagazin Saiten in St. Gallen schliesslich befand, mein Blick auf die Flüchtlinge sei ein postkolonialer und kapitalistischer. So viel zum Zustand der regionalen Presse zwischen rechtskonservativ und Gutmenschentum. Um so dankbarer bin ich thurgaukultur.ch für die Veröffentlichung.

 

J.K.

 

 

 

 

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