von Michael Lünstroth, 28.07.2022
Im Netzwerk verheddert
Was für ein Werk: Boris Petrovskys „Filament Momentum“ zeigt, dass Kunst immer noch die beste Sprache zur Entschlüsselung unserer Welt ist. (Lesedauer: ca. 5 Minuten)
Wenn es stimmt, was Marcel Proust geschrieben hat dass jeder Leser, wenn er liest, nur ein Leser seiner selbst ist, dann ist Literatur, aber auch Kunst ganz allgemein, immer vor allem eines - eine Reise zu sich selbst. Boris Petrovsky würde das mutmasslich unterschreiben.
Dem Konstanzer Medienkünstler ist es in den vergangenen Jahren immer wieder gelungen, grosse gesellschaftliche Fragen so konkret wie ergebnisoffen zu stellen, dass man seine Installationen und Ausstellungen sehr oft ebenso inspiriert wie verunsichert verliess. Gerade weil man am Ende doch immer wieder auf sich selbst zurück geworfen wird.
Worum es geht
Jetzt hat Petrovsky es wieder getan. Mit seiner neuen Arbeit „Filament Momentum“ schafft er es erneut, aktuelle Fragen spektakulär zu inszenieren. Kurz gesagt: Es geht um uns alle, die Welt in der wir leben, die Möglichkeiten des Digitalen und die Frage, ob die so entstehenden Netzwerke nicht vielmehr verschleiern als tatsächlich verbinden. Aber eins nach dem anderen.
In einer alten Lagerhalle im Konstanzer Industriegebiet hat er auf 300 Quadratmetern ein bis zu elf Meter hohes Netz aus dicken Seilen, grossen Spulen und elektrostatischen Feldern konstruiert. Es gibt Querverbindungen, manche Seile laufen auf Kopfhöhe, andere schwingen sich bis fast unter die Hallendecke. Ein beständiges Surren und mechanisches Klackern erfüllt den Raum.
Video: Einblick in die Installation
Denn: Die von einer Seilbahnfirma konstruierten Seile stehen nicht still. Immer wieder werden sie von einem Motor angetrieben, erst ein paar Meter in die eine Richtung, dann wieder zurück. Fast wie Wellen am Strand, die im langsamen Rhythmus des vor und zurück den Gang des Tages bestimmen. Als imitiere die künstliche Maschine die natürlichen Gezeiten.
Die Seile sind aus roten und weissen Teilen gefertigt. Was bei Boris Petrovsky immer mindestens zwei Dinge bedeutet: der Hinweis auf ein Gefahrenmoment und die Binarität des Digitalen.
Selbst wenn man das alles weiss: Steht man das erste Mal vor dieser raumgreifenden Installation ist man erstmal überfordert. Das Surren, das Klackern, die beständige Bewegung, man kann nie wirklich alles überblicken. Dafür sorgt schon die schiere Grösse der Arbeit.
Die Angst, etwas zu verpassen
Also nähert man sich Stück für Stück und steigt in die Installation ein. Blickt nach oben, zur Seite, nach unten, andere Seite, überall scheint irgendwas zu passieren und ist man einmal nicht schnell genug, hat man schon etwas verpasst. Ist das eine Anspielung auf FOMO (fear of missing out)? Die ganz gegenwärtige Angst vieler Menschen, etwas zu verpassen?
Das ist jedenfalls der Moment, in dem man schon mittendrin ist im Proust’schen Kunstverständnis als Spiegel seiner selbst. Natürlich ist das hier höchst subjektiv, was ich schreibe. Aber wie könnte man, während man angespannt suchend unter Petrovskys Arbeit steht, nicht an FOMO denken?
Während ich noch darüber grüble, bin ich längst Teil des Netzwerkes geworden, weil ich in das Kunstwerk hineingetreten bin. Die Seile surren über meinem Kopf, meine Ohren hören das Klackern des Motors, meine Augen folgen den Seilen auf ihren wundersamen Wegen. Vor und zurück. Vor und zurück.
Das Netzwerk greift nach dir
Und plötzlich sind das nicht mehr Seile in einem alten Hochregallager, sondern all die einzelnen Verbindungen, die ich in meinem Leben eingegangen bin, analog wie digital, und die an mir zerren und ziehen. Vor und zurück. Vor und zurück.
Die körperliche Erfahrung wird intensiver, je mehr ich in das Netz vordringe. An manchen Punkten ist die Kraft der Netzwerke regelrecht spürbar - elektrostatische Felder (entstanden aus der andauernden Bewegung der Installation) bringen den Körper in Schwingung, das Kunsterlebnis wird plötzlich ziemlich physisch. Das Netzwerk greift nach dir. Es ist in Wahrheit viel enger als es dir deine Augen verraten haben.
Beständiges Flirren und Vibrieren: Unsere kollektive Dauer-Erregung
Während ich in diesem Flirren stehe, muss ich an den Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen denken. Der hat in seinem klugen Buch „Die grosse Gereiztheit“ über unsere kollektive Dauer-Erregung in Zeiten des Internet geschrieben: „Wir sind gereizt, weil uns der Gedanken- und Bewusstseinsstrom anderer Menschen in nie gekannter Direktheit erreicht, wir ungefiltert der Gesamtgeistesverfassung der Menschheit ausgesetzt werden. (…) Wir sind gereizt, weil wir im Informationsgewitter und einem medientechnisch produzierten Dauerzustand der Ungewissheit in heller Aufregung nach Fixpunkten und Wahrheiten suchen, die doch, kaum meinen wir, ihrer habhaft geworden zu sein, schon wieder erschüttert und demontiert werden.“
Ich fühle mich ertappt und gleichermassen verstanden, weil das ein Gedanke ist, der mich schon lange beschäftigt: Wie kommen wir raus aus dieser Dauer-Erregung, diesem dauernden Vibrieren unserer Synapsen, die irgendwann zu Überforderung oder Gleichgültigkeit führen muss, ohne sich komplett von der Welt abzukoppeln?
Reduktion von Komplexität? Nicht Petrovskys Sache
Boris Petrovsky gibt darauf keine Antworten. Das wäre ihm zu einfach. „Komplexität zu reduzieren ist keine Aufgabe der Kunst, eher müsste es doch darum gehen, der banalen Vereinfachung eine Verdichtung der Komplexität entgegenzustellen“, sagt der Konstanzer Künstler. Seine Kunst hat immer eine politische Dimension, aber sie verachtet politischen Aktivismus. Zumal: Die mediengesellschaftliche Deutung ist ja nur eine mögliche Lesart.
Bilderstrecke: Im Keller der Mosterei Egnach vor dem Einzug der Künstler:innen (Fotos: Philipp Schubiger/Mai 2021)
Boris Petrovsky formuliert es offener: Seine Arbeiten, er nennt sie manchmal auch Versuchsanordnungen, geben lediglich Hinweise auf unsere Denkweise und wohin diese in letzter Konsequenz führen könne. Darum geht es ihm also: Beobachtungen abzubilden, die den Betrachter zu sich selbst, aber eben auch zur Gesellschaft führen. Eine Frage könnte also auch lauten: Was ist von der versteckten Loop-Bildung zu halten, die sein Seilnetzwerk installiert? Begeben wir uns gerade in Netzwerke hinein, die mehr verschleiern als verbinden?
Geheimrezept der Wirklichkeitskonstruktion: Der Einfluss der Tech-Giganten
Ganz ehrlich: Wer hätte bei den Sätzen nicht sofort Tech-Giganten wie Facebook, Google und Apple im Kopf? Die Bilder sind längst da, bevor die Frage zu Ende gestellt ist.
Nochmal Bernhard Pörksen dazu: „Es handelt sich um eine Art Geheimrezept der Wirklichkeitskonstruktion. Man weiß lediglich, dass die eigene Suchhistorie (was hat man zu einem früheren Zeitpunkt recherchiert), das Profil der Interessen (was fand man womöglich interessant), der Standort (an welchem Ort der Welt hat man sich eingeloggt) und weitere, konstant optimierte Parameter zu einem feingliedrig gesponnenen Geflecht aus wahrscheinlich ziemlich realistischen Hypothesen, die Aussagen darüber erlauben, was einen just in diesem Moment interessieren könnte und welche Werbeangebote einen eventuell faszinieren.“
Kontrolle? Welche Kontrolle?
Man könnte in Petrovskys Arbeit also auch einen Aufruf zu mehr Kontrolle der Tech-Giganten hineinlesen. Allein: Der Künstler macht in seiner Arbeit deutlich, dass er an solche Kontrollinstanzen nicht recht glaubt. Zur Installation gehört auch eine Schalttafel, die an Kontrollinstrumente aus großen Produktionshallen erinnert. Was und ob sie überhaupt etwas kontrollieren, bleibt aber weitgehend offen. Fragt man den Künstler direkt nach seiner Haltung zur Technik, dann sagt er, er sei weder besonders technikkritisch noch besonders technikaffin. Es gehe im lediglich darum, einen Ist-Zustand unserer Gesellschaft abzubilden.
„Komplexität zu reduzieren ist keine Aufgabe der Kunst, eher müsste es doch darum gehen, der banalen Vereinfachung eine Verdichtung der Komplexität entgegenzustellen“
Boris Petrovsky, Künstler
In der Interpretation kann man noch ein Stück weiter gehen: Petrovsky will das Unkontrollierbare im scheinbar kontrollierten Raum zeigen. Letztlich ist sein Ziel die Sichtbarmachung digitaler Strukturen in der analogen Welt. Und wohin das alles führen kann.
Warum uns Fehler menschlich machen
In seiner Vorgänger-Arbeit „Total Recourse“ hat Boris Petrovsky die Bedeutung von Fehlern für das menschliche Leben fokussiert. Eine der Thesen lautete: Wer ehrgeizig sämtliche Fehler ausmerzt und an der Erschaffung eines perfekt funktionierenden Systemen arbeitet, der muss sich nicht wundern, wenn er eines Tages in einem totalitären System aufwacht. Diese Fehlermomente finden sich gelegentlich auch in „Filament Momentum“, wenn die Seile in unvorhersehbare Schwingung geraten oder der Motor sich wegen Überhitzung ausschaltet.
Zwischentitel test
Aber Petrovsky formuliert die Frage hier ein bisschen anders als noch bei „Total Recourse“. Sie lautet eher: Können wir das menschliche Leben komplett von dem abkoppeln, was wir nicht wollen? Können wir jegliche Irritation umgehen oder geht das nur zu dem Preis der Aufgabe unserer Menschlichkeit? Das Individuum steht im Zentrum, nicht die Gesellschaft.
Was Eigenverantwortung wirklich bedeutet
Und damit vielleicht auch die in den vergangenen Jahren so oft missverstandene Eigenverantwortung jedes einzelnen. Eigenverantwortung heisst nicht, dass man tun kann, was man will, sondern dass man verantwortlich abwägt, was das Richtige ist.
Genau das wird in unserer Zeit wichtiger denn je bei all den vermeintlichen Wahrheiten, die um die Gunst des Publikums konkurrieren. Und schon klar, egal, welche man davon wählt: Man kann nicht nicht konstruieren. „Aber es gibt selbstverständlich Wahrheits- und Wirklichkeitsentwürfe sehr unterschiedlicher Qualität und Glaubwürdigkeit“, schreibt der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen. Eine unserer grossen Aufgabe wird es in den kommenden Jahren sein, diese von jenen zu unterscheiden.
Nur noch bis 29. Juli!
Die Installation ist noch bis Freitag, 29. Juli, zu sehen. Anfragen zu Führungen per Mail an boris@petrovsky.de Geöffnet: Mittwoch bis Freitag, 17 bis 20.30 Uhr. Finissage am Freitag, 29. Juli, 18 Uhr. Der Ort: Halle 1 - Greenbox (August-Borsig-Strasse 11, 78467 Konstanz). Da nur wenige Parkplätze auf dem Areal vorhanden sind, wird eine Anfahrt mit dem Bus Nr. 6 und 15 (Haltestelle Fritz-Arnold-Strasse) oder dem Velo empfohlen.
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