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von Michael Lünstroth, 14.11.2018

Progressiv in der Provinz

Progressiv in der Provinz
Will Künstler und Geschichten entdecken: Helga Sandl, Kuratorin des Museum Kunst und Wissen im Diessenhofen. | © Michael Lünstroth

In Diessenhofen, am westlichen Rand des Kantons, gibt es ein Museum, das sich dem Werk eines der wichtigsten Thurgauer Künstler widmet und immer wieder auch den Brückenschlag in die Gegenwart wagt.

Das Gebäude ist aus dem Jahr 1518, die Gedanken, die darin gewälzt werden, sind ziemlich gegenwärtig: Das Museum für Kunst und Wissen im Bilderbuchdorf Diessenhofen am westlichen Rand des Thurgau hat sich in den vergangenen Jahren einen Namen gemacht als ein Ort, der einerseits vergessene regionale Künstler und Geschichten wiederentdeckt, andererseits aber mit seinem Blick nie nur im Lokalen verharrt. Wenn man das Haus zum ersten Mal sieht, würde man das nicht für möglich halten: Ein 500 Jahre alter Bau mit einer Wendeltreppe, die den Füssen beim Heraufschreiten immer wieder Fallen stellt, weil die Stufen unterschiedlich hoch sind. Der Turm wacht markant über das Rheinufer. Bei so viel Idylle würde man eher ein Ortsmuseum erwarten.

Das war es früher auch mal. Seit den 1970er Jahren wird das Gebäude, eine ehemalige Rotfärberei und später Amtshaus der Gemeinde, für museale Zwecke genutzt. Den gegenwärtigen Anstrich hat dem Haus Helga Sandl verpasst. 2013 hat die Konstanzer Kunsthistorikerin von der Stadt den Auftrag erhalten, sich um das Museum zu kümmern. „Die Besucherzahlen waren damals nicht besonders, daher kam der Wunsch, etwas Neues zu machen“, erklärt Sandl. Mit einem 20-Prozent-Pensum ist es ihr gelungen, das Museum aus dem Dornröschenschlaf zu wecken. Ihre erste Ausstellung 2014 hiess „Textile Welten“ und zeigte drei Jahrhunderte Textilkunst: Traditionelle Rotfärberei in einer neu konzipierten Dauerausstellung, Textilentwürfe und Batikfärbereien im Zeichen der Moderne von Margrit Roesch-Tanner und zeitgenössische Raumkunst der jungen Künstlerin Johanna Nocke. Das zeigte damals schon in welche Richtung Helga Sandl das Haus entwickeln wollte: Regional verankert, aber immer auch mit ausreichend Flügelkraft ausgestattet, um über das Rheintal hinauszuschauen. 

Carl Roesch ist der Grund für das Museum

Dass es das Gebäude überhaupt als Museum gibt, hat mit einem bekannten Bürger der Stadt zu tun: Carl Roesch (1884–1979). Der Maler, der unweit des Museums auch sein Atelier hatte, schenkte seine Bilder der Stadt mit der Auflage, sie auch öffentlich zu zeigen. Die Gemeinde entschied, dass das frühere Amtshaus der richtige Ort dafür wäre. Wenn man so will, dann ist Helga Sandl auch über Carl Roesch zu dem Job gekommen. Sie war zuvor schon bei der Carl-Roesch-Stiftung engagiert, als es um die Besetzung der Stelle im Museum ging, war Sandl gewissermassen die natürliche Kandidatin, weil sie sich schon intensiv mit Roeschs Werk auseinander gesetzt hatte. Denn das ist der zweite Teil des Museums - neben den Sonderausstellungen zeigt das Museum für Kunst und Wissen auch eine Dauerausstellung mit Arbeiten von Carl Roesch. „Wir haben hier eine der umfangreichsten Sammlungen von Werken des Künstlers bei uns im Museum“, sagt Helga Sandl.

Darauf ruht sie sich aber nicht aus, regelmässig verändert sie die Dauerausstellung, „sodass immer neue Blickwinkel auf das Werk entstehen“, erklärt Sandl. Beispielhaft dafür steht auch eine Ausstellung, die sie im vergangenen Jahr gemeinsam mit der Künstlerin Judit Villiger realisiert hat: Ausgehend von einem Carl-Roesch-Werk aus dem Jahr 1917 näherten sich Judit Villiger und Helga Sandl da dem Jahr 1917. Ein Jahr inmitten des Ersten Weltkriegs wird zum Epochenjahr in der Kunst: Nicht nur, aber auch weil Marcel Duchamp ein Pissoir zum Kunstwerk erklärte. In der Ausstellung formulierten Villiger und Sandl Fragen an unser kulturelles Gedächtnis, unsere Traditionen, Riten und Mythen.

Die Bedingungen für Ausstellungen, insbesondere für solche mit zeitgenössischer Kunst, sind in dem 500 Jahre alten Gebäude, gelinde gesagt, nicht einfach. Das altehrwürdige Gemäuer macht Hängungen schwierig, die breite Fensterfront Richtung Rhein lässt viel Licht rein und stellt die Kunst so manchmal in den Schatten, die verwinkelten Räume erschweren die komplette Entfaltung einer Kunstwirkung bisweilen. Umso erstaunlicher, dass es Helga Sandl trotzdem immer wieder gelingt, berührende Ausstellungen zu kuratieren wie 2017 die Geschichte der jüdischen Familie Wolf.

Wie aus dem Bilderbuch: Die Altstadt von Diessenhofen.
Wie aus dem Bilderbuch: Die Altstadt von Diessenhofen. Bild: Michael Lünstroth

Ein Ziel: Künstler neu oder wieder zu entdecken

Die Namen gebenden Disziplinen Kunst und Wissen sind für die Kuratorin die tragenden Säulen bei der Ausstellungsausrichtung. Das sieht man auch an der aktuellen Ausstellung. Sie heisst „600 Jahre Zunft zum Grimmen Löwen“ (zu sehen bis 12. Mai 2019) und beschäftigt sich mit der Historie der stadtprägenden Zunft. Es ist auch ein Beispiel dafür, dass sich Helga Sandl immer darum bemüht, auch lokale Themen und Akteure in ihr Haus zu holen. Ihre grösste Freude bei der Arbeit sei es, Künstler zu entdecken: „Es gibt hier in der Gegend immer wieder Künstlerinnen und Künstler, die qualitativ sehr gute Sachen machen, aber noch nie ausgestellt haben. Auch denen wollen wir einen Raum bieten“, sagt Sandl. In diesem Sinne verstehe sich das Museum Kunst und Wissen auch als Experimentierfeld. 

Dem will die Kuratorin auch im nächsten Jahr treu bleiben. Zum 5. Geburtstag des Museums plant Helga Sandl eine Sonderausstellung unter dem Titel „Ansichten von Diessenhofen“. Hier will sie auch die Bürger einbinden: Bei der Mitmach-Aktion „Zeig mir dein Bild von Diessenhofen!“ können Bürger ihre Sicht auf ihre Stadt zeigen. Im Juni soll es zudem ein grosses Museumsfest geben. Weitere Ideen werden entwickelt. Wer Helga Sandes Arbeit in den vergangenen Jahren beobachtet hat, der weiss, dass es nicht bei einem verklärenden Blick in die Idylle bleiben wird. Spätestens das wäre dann mal ein Anlass, das kleine, rührige Museum am westlichen Rand des Kantons zu besuchen.

Die Öffnungszeiten: Samstag 15 bis 18 Uhr; Sonntag 14 bis 18 Uhr. Das Museum befindet sich in Diessenhofen in der Museumsgasse 11. Auf der Internetseite der Gemeinde Diessenhofen findet sich ein Lageplan. 

Video: arttv.ch über das Museum Kunst und Wissen 

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