von Michael Lünstroth, 09.08.2018
Die Pionierin
Selbstbestimmt, suchend und ein bisschen sonderbar: Helen Dahm (1878-1968) war eine der aussergewöhnlichsten Künstlerinnen ihrer Zeit. Sie rauchte, liebte Frauen, ging für Monate nach Indien, weigerte sich stets als Künstlerin nur in einer Untergruppe der männlichen Kollegen anerkannt zu werden. Als erste Künstlerin überhaupt bekam sie 1954 den Kunstpreis der Stadt Zürich. Wer war diese Frau? Was bewegte sie? Und inwiefern taugt sie auch in einer heute noch männerdominierten Kunstwelt als Vorbild? Stefanie Hoch, Kuratorin der neuen Helen-Dahm-Ausstellung im Kunstmuseum Thurgau (ab 2. September), beantwortet diese und viele weitere Fragen im grossen Interview über eine ganz und gar ungewöhnliche Frau.
Frau Hoch, am 2. September eröffnet das Kunstmuseum eine grosse Retrospektive zu Helen Dahms Werk. Warum kommt diese Ausstellung gerade jetzt?
Helen Dahm ist 1968 gestorben, das heisst in diesem Jahr jährt sich ihr Todestag zum 50. Mal. Das ist einer von drei Anlässen. Der zweite ist, dass es schon sehr lange keine grosse Ausstellung bei uns über sie gab. Die letzte hier im Kunstmuseum war 1983. Da haben wir gedacht, es wäre mal wieder an der Zeit sich mit Helen Dahm zu befassen, zumal es noch Einiges gibt, was bisher noch nicht erforscht und gezeigt wurde. Und, ein dritter Grund, Regula Witzig, die Tochter von Helen Dahms letztem Hausarzt, ist vor zwei Jahren gestorben. Dadurch kam ihr Nachlass an das Helen-Dahm-Museum in Oetwil am See und der konnte jetzt auch erstmals aufgearbeitet werden mit neuem Material, das bislang noch nicht bekannt war.
Sie haben sich in der Vorbereitung intensiv mit Leben und Werk von Helen Dahm beschäftigt: Was denken Sie, würde Helen Dahm sagen, erführe sie von der Ausstellung?
Ich glaube, sie wäre glücklich darüber. Sie hat zu ihrer Zeit ja sehr lang um Anerkennung kämpfen müssen. Sie hat lange nicht richtig Fuss fassen können im damals noch sehr männlich dominierten Kunstbetrieb. Und vermutlich wäre sie erstaunt, dass wir nun ganz neue Seiten von ihrem vielfältigen Werk zeigen und eine Menge unbekannter Bilder und auch wunderschöne kunstgewerbliche Arbeiten wie Tapetenstoffe und andere Textilien
Was für ein Mensch war Helen Dahm?
Sie war sehr aussergewöhnlich für die damalige Zeit. Schon die Entscheidung für den Weg als Künstlerin war für eine Frau damals unüblich. Dann lebte sie mit einer Frau zusammen in einer wahrscheinlich lesbischen Beziehung, ging später für ein Jahr nach Indien, experimentierte viel in ihrer künstlerischen Ausdrucksform. Für die damalige Zeit war sie extrem progressiv. Das zeigt sich schon früh: Als das väterliche Unternehmen in Kreuzlingen Konkurs anmelden muss und der Vater verschwindet, zieht sie mit Mutter und Schwester nach Zürich. Gemeinsam eröffnen sie eine Pension für Studenten und Dozenten. Helen Dahm hat die hauptsächlich geleitet, ihre Mutter war schwer krank. Nebenher hat sie versucht, in Abendkursen eine künstlerische Ausbildung zu erlangen. Durch die Studentenpension lernte sie auch ihre spätere Partnerin Else Stranz kennen. Mit ihr zusammen brennt sie dann 1906 durch, so hat sie es selbst auch formuliert, und geht nach München. Den Kontakt zu ihrer Familie bricht sie komplett ab, das war ziemlich radikal. Was alles dahinter steckte, weiss man nicht exakt. Es gibt Vermutungen, dass sie vom Vater missbraucht wurde, aber das weiss man alles nicht so ganz genau.
Helen Dahm im Originalton aus dem Jahr 1954
Warum gingen die beiden Frauen ausgerechnet nach München?
In München hatten Frauen damals die besten Möglichkeiten für eine künstlerische Ausbildung und dort hat sie verschiedene Kurse und Schulen besucht. Sie hat auch die Akteure des „Blauen Reiter“ kennen gelernt, aber sicher auch andere avantgardistische Strömungen, vom Jugendstil über Die Brücke bis hin zu lebensreformerischen Ansätzen. 1913 gehen die beiden Frauen schliesslich wieder zurück nach Zürich, dort hat Helen Dahm versucht, Anerkennung zu finden in der Kunstwelt. 1919 entscheiden sich Dahm und Stranz auf einen alten Bauernhof in Oettwil zu ziehen. Es ging aber nicht um einen Rückzug, sondern entsprach dieser damals von vielen Künstlern und Intellektuellen verfolgten Suche nach Freiheit und Inspiration auf dem Land.
Irgendwann entschliesst sich Helen Dahm nach Indien zu gehen. Wie kam es dazu?
1932 trennt sie sich von Else Stranz. Das muss für Helen Dahm eine schwierige Zeit gewesen sein. Sie stürzt wohl in eine Art Sinnkrise. Über Freunde bekommt sie Kontakt zu dem indischen Guru Meha Baba, der damals in bestimmten Kreisen in Europa sehr populär ist. Sie wird mit zwei weiteren Frauen eingeladen, nach Indien zu kommen, um in einem Frauen-Ashram zu leben. 1938 reist sie tatsächlich mit dem Schiff hin, da ist sie übrigens auch schon 60 Jahre alt. Das zeigt auch nochmal, dass sie immer eine Suchende war, die kompromisslos ihren Weg ging. Vor der Reise nach Indien hat sie beispielsweise fast ihren gesamten Besitz verkauft. Eigentlich ging sie mit der Vorstellung, für immer dort zu bleiben. Aber sie hatte Schwierigkeiten mit den strengen Regeln dort wie zum Beispiel ein anfängliches Malverbot und die englische Umgangssprache. Sie war eine Eigenbrötlerin, eine, die sich nicht unbedingt in Gruppen wohlgefühlt hat. Es gibt Tonbandaufnahmen von einer Mitreisenden, die sie auch als Sonderling beschrieb.
Alles in allem, also keine besonders glückliche Zeit für Helen Dahm?
Zwar wirkt sie auf Fotografien, die wir ausfindig machen konnten, durchaus glücklich, aber es war bestimmt nicht einfach für sie. Auf einer Busrundreise in Indien erkrankt sie , vermutlich an der Ruhr und kehrt 1939 mit einem der letzten Schiffe vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zurück nach Europa.
«Sie hat sich nie zufrieden gegeben mit der Mittelmässigkeit.»
Stefanie Hoch, Kuratorin Kunstmuseum Thurgau
Sie sagen, Helen Dahm sei eine Suchende gewesen: Wonach hat sie gesucht?
Sie hat nach dem Wesentlichen des Lebens, des Menschseins gesucht. Ein klassischer Lebenslauf kam für sie nicht in Frage, sie hat eine Sinnsuche angetrieben. Sie stand ausserhalb von konventionellen Lebensläufen, aber lange auch ausserhalb der Kunstwelt. Ihre Suche galt einem für sie gültigen künstlerischen Ausdruck, einer Wahrheit. Sie hat sich nie zufrieden gegeben mit der Mittelmässigkeit, wollte immer mehr und vieles ausprobieren.
Wie schwer war es in der damaligen Zeit als Frau ein so selbstbestimmtes Leben zu führen?
Das war extrem schwer. Weil es auch bedeutet hat, dass sie sich eben nicht nur Freunde macht, dass sie sicher auch abgelehnt wurde von bestimmten Kreisen. Sie hat diese wahrscheinlich lesbische Beziehung geführt, es war materiell teilweise auch nicht einfach.
Haderte Sie mit Ihrem Leben?
Sie war jemand, der nicht gejammert hat. Sie wollte sich nie in der Opferrolle sehen. Sie wollte zum Beispiel auch nie in einer der Frauen-Organisationen Schweizer Künstler sein. Sie hat immer gesagt, wenn dann wolle sie richtig anerkannt sein und nicht in irgendeiner Untergruppe von den Männern. Aber klar, natürlich hat sie auch mit der Situation gehadert. Das scheint auch durch ihr Künstlerbild durch: „Künstler sein heisst nicht allein Talent haben, sondern Durchhalten“, sagte sie immer wieder.
Taugt sie heute noch als Vorbild?
Absolut. Das ist auch heute noch das Spannende an ihr: Dass sie kompromisslos ihren Weg gegangen ist.
Bilderstrecke 1: Der Mensch Helen Dahm
Wir haben jetzt auch viel über den Menschen Helen Dahm gesprochen. Wie sehr hat ihr ungewöhnlicher Lebenslauf ihre Wahrnehmung als Künstlerin erschwert?
Das ist ein wichtiger Punkt. Unsere Idee für die Ausstellung war auch, dass wir versuchen, sie mal abgelöst von dieser interessanten Biografie zu sehen. Denn das ist natürlich immer schwierig: Der Lebenslauf schiebt sich schnell vor ein Werk, da hat man dann immer gleich irgendwelche Interpretationen parat. Wir haben versucht, Person und Werk schärfer zu trennen. Und wir rücken auch bisher kaum oder gar nicht wahrgenommene Aspekte in den Vordergrund: ihre Mitgliedschaft im Schweizerischen Werkbund oder ihre Kontakte nicht nur zum Blauen Reiter, sondern auch zu Künstlern wie Julius Exter oder Hermann Gattiker.
Wie ist ihr Werk im Vergleich auch zu Zeitgenossen einzuordnen?
Sie wird unterschätzt. Sie ist eine der eindrücklichsten Künstlerpersönlichkeiten ihrer Zeit. Sie hat in den 1910er Jahren diese spezifische Kombination aus Symbolismus und Expressionismus entwickelt. In der Schweiz gibt es nicht viele Positionen, die so gearbeitet haben. Im Katalog zur Ausstellung haben wir unter anderem Werke von anderen Künstlern wie Emil Nolde, Paul Cezanne oder Paula Modersohn-Becker den ihren gegenübergestellt, um zu zeigen, wie fortschrittlich und aktuell Helen Dahm war und ist. Natürlich: Sie war nicht die Spitze der Avantgarde, aber sie gehört zur „anderen Moderne“, die in Vergessenheit geraten ist. In unserer Ausstellung wollen wir diesen anderen Blick auf Helen Dahm ermöglichen und durch den Kontext der jeweiligen Zeit ihre Modernität zeigen.
«Als lesbische Frau hat sie nie so richtig Einstieg gefunden in diese damals sehr männerdominierte Kunstwelt.»
Stefanie Hoch, Kuratorin
2000 fand die letzte grosse Ausstellung über Helen Dahm statt. Warum ist sie trotz ihres vielfältigen Werkes und ihres bunten Lebenslaufes überregional eher unbekannt geblieben?
Das hat damit zu tun, dass sie nicht Teil des Kunstbetriebs war und ihr Werk eben lange nicht die Würdigung erfahren hat, die es verdient hätte. Es liegt aber auch daran, dass ihr Nachlass sehr verstreut ist und teilweise noch in Sammlungen schlummert. Ein weiterer Grund sind die teilweise religiösen Motive, durch die sie in eine bestimmte „Schublade“ rutschte und verschwand. Anhand dieser Biografie zeigt sich, wie Kunstgeschichte geschrieben wird.
Liegt das auch daran, dass sie eine Frau war?
Absolut. Das war ja der Grund, dass sie als lesbische Frau nie so richtig Einstieg gefunden hat in diese damals sehr männerdominierte Kunstwelt. Sie verfügte auch nicht über die Netzwerke, die es brauchte, um erfolgreich zu sein. Allerdings muss man auch sagen, dass sie sich als Eigenbrötlerin teilweise auch selbst rausgezogen hat, weil sie sich nicht anbiedern wollte.
Angenommen, Helen Dahm lebte heute und wäre zeitgenössische Künstlerin, hätte sie es heute leichter im Kunstbetrieb?
Ja, ich denke schon. Sie hätte heute andere Möglichkeiten gehabt. Die Kunstwelt hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert, es gibt zwar noch immer keine Chancengleichheit, aber der Zugang für Frauen in den Kunstbetrieb ist heute definitiv einfacher geworden. Aber vielleicht würde sie heute aus anderen Gründen „anecken“. Sie war einfach eine sehr eigenwillige Persönlichkeit.
Bilderstrecke 2: Die Künstlerin Helen Dahm
Termine: Die Ausstellung „Helen Dahm – Ein Kuss der ganzen Welt“ wird am Sonntag, 2. September, eröffnet. Gemeinsame Vernissage des Kunstmuseums Thurgau und des Helen Dahm Museums in Oetwil am See: Sonntag, 2. September 2018, 11.30 Uhr im Kunstmuseum Thurgau, Kartause Ittingen und 16 Uhr im Helen Dahm Museum, Oetwil am See. Die Ausstellung ist im Kunstmuseum Thurgau bis zum 25. August 2019 zu sehen. Es gibt ein umfangreiches Rahmenprogramm. Zur Ausstellung erscheint auch ein grosser Katalog.
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